
Knuddelattacken und Kaktusgefühle: Bilderbuch über Freundschaft und Grenzen-Setzen
Besprechung vom 28.07.2025
Vom Glück, Nein zu sagen
In ihren Bilderbüchern beschäftigt sich Jule Wellerdiek mit Grundfragen des Zusammenlebens. "Kalle will nicht knuddeln" erzählt von der Schwierigkeit und der Erleichterung, sich abzugrenzen.
Jule Wellerdiek ist ein Komet am jungen Illustratorenhimmel. Schon ihre Bachelorarbeit "Holgers Haus", mit der sie ein Designstudium an der FH Münster abschloss, konnte 2022 im Knesebeck-Verlag erscheinen. Das Buch zum Thema Heimat wurde für verschiedene Preise nominiert. Mittlerweile hat Wellerdiek sieben Kinderbücher illustriert; "Fundbüro Wurm" - Thema Verlust - wurde ins Englische und Spanische übersetzt. Jule Wellerdiek arbeitet mit Aquarellfarben, setzt Buntstift-Akzente, nimmt Papiere unterschiedlicher Beschaffenheit, collagiert. Die Stimmung ihrer Blätter ist hell, oft schwebend. Sie geben Raum zum Staunen. Aber die Illustratorin gestaltet nicht nur, sie konzipiert den Plot ihrer Geschichten und schreibt auch die Texte selbst. Offensichtlich gelingt ihr das in glücklichem Learning by doing. Und ihr Konzept überzeugt. Sie verknappt existenzielle Grundfragen, die nicht nur für Kinder interessant sind, sondern auch Erwachsene zum Nachdenken bringen. In "Kalle will nicht knuddeln" geht es ums Neinsagen: Was will ich, und was wird mir zu viel?
Kalle ist ein hundeartiges Wesen, sein Fell schimmert zwischen Schaumbad und Schaf. Hell, weich, kuschelig. Alle möchten den süßen Kalle anfassen. "Knuddelattacke" schallt es schon von Weitem, wenn Kalle den Park betritt. Der bullige rote Bo springt hechelnd herbei, die blaue Lotti streckt Kalle ihre Schlabberzunge entgegen, und Maja, mausig und türkis, streckt die langen Pfotenarme aus. Kalle wird gehalten und abgeschleckt. Doch er hat ein komisches Bauchgefühl dabei. Nichts liebt Kalle mehr, als mit seinen Hunde-Freunden im Park zu spielen, aber gerade möchte er nur davonlaufen. Zu Hause denkt er nach, was ihn so bedrückt. Nein, es ist nicht das Wetter, nicht das Abendessen. Aber als er in den Spiegel sieht, weiß er es: Er will nicht mehr kuschelig sein! Nachdenklich schaut er hinaus zum Mond. Und als den Blick sinken lässt, sieht er die Lösung. Auf dem Fensterbrett steht ein Kaktus. Am nächsten Tag trägt Kalle ein Kaktuskostüm.
Jule Wellerdiek hat ein sicheres Gespür für Dramaturgie. So zeigt sie Kalle, der nun mit seinen Stacheln selbstbewusst den Park betritt. Und dann malt sie die Szene aus Kalles Sicht: vom Bildrand schauen fünf Freundesgesichter (manche nur angeschnitten) auf Kalle herunter. Damit aber sehen sie auch direkt zum Betrachter des Bilderbuchs: Wer das Buch anschaut, ist jetzt in der Situation von Kalle. Und mit Kalle kann er sich behaupten. Im nächsten Bild geht der Hund souverän an den Freunden vorbei, und als sie sich wundern und sagen: "Du bist doch unser Kuschelfreund", sieht man Kalle auf dem folgenden Bild in Großaufnahme. Wütend schreit er: "Nein, bin ich nicht!" Diese Wörter sind mit schwarzer Farbe gemalt. Und alles an Kalle ist jetzt stachelig, nicht nur das Kaktuskostüm: Augen und Mund, die Krallen der Pfoten sind Stachelstriche, und die Ohren stehen wie Stacheln ab. Als Kalle erklärt, dass er nicht dauernd angefasst werden möchte, schweigen die Freunde. Und nacheinander geben sie zu, dass Kalle ihnen etwas gezeigt hat, wozu ihnen selbst der Mut fehlte. Die mausige Maja sagt, dass sie das gegenseitige Beschnuppern nicht mag; sie habe nur mitgemacht, um nicht als Spielverderberin zu gelten. Und Bo gesteht, nur weil er groß und stark sei, wolle er nicht dauernd jemanden auf dem Rücken sitzen haben. Die Freunde lernen, ihr Verhalten zu korrigieren. Sie spielen erst einmal Anjaulen und Toben. Und Kalle muss kein Kaktus mehr sein.
Dieses Buch macht Kindern Mut, auf ihr "Bauchgefühl" zu achten und Nein zu sagen, wenn sie Nähe als Zudringlichkeit empfinden. Kalle - K wie Kaktus, K wie Knuddeln und eben K wie Kalle - zeigt ihnen, dass man Nein sagen kann und trotzdem von seinen Freunden geliebt wird. Und für knuddel- und kussbereite Großeltern, Tanten und Onkel darf Kalle eine so stachelige wie schäfchenweiche Warnung sein. ANGELIKA OVERATH
Jule Wellerdiek: "Kalle will nicht knuddeln".
Annette Betz, Berlin 2025. 32 S., geb.
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