Besprechung vom 02.06.2025
Wer hat Angst vorm Fluch des Pharaos?
Rauschhafte Lektüre: Kate Atkinson taucht mit "Nacht über Soho" tief in Londons Roaring Twenties ein
Das London des Jahres 1925 war, "Nacht über Soho" nach zu urteilen, nicht fundamental anders als die Großstädte von heute. Schmelztiegel, in denen die verschiedensten Leute auf kleinstem Raum mehr nebeneinander als gemeinsam ihr Glück zu machen versuchen. Sie reiben sich auf, drohen manchmal geschluckt zu werden und flüchten sich, weil das eigene Heim nicht immer den erhofften Trost bietet, abends in die Vergnügungstempel, die Restaurants, Kinos, Bars und Clubs. Im Grunde alles wie im London der Roaring Twenties, dessen turbulente Partymeilen die vielfach preisgekrönte britische Autorin Kate Atkinson ("Familienalbum") in ihrem neuen Werk auferstehen lässt.
Pulp-Krimi, Gesellschaftsporträt und gründlich recherchierter Historienroman verbinden sich in "Nacht über Soho" zur Geschichte der überlebensgroßen Clubbetreiberin Nellie Coker und ihres aufstrebenden und zugleich ständig vom Zerfall bedrohten Imperiums. Das überaus einträgliche Unternehmen muss vor den Razzien korrupter Cops mit Übernahmephantasien und vor der niemals schlafenden Konkurrenz verteidigt werden, aber auch vor Nellies eigenen sechs Kindern und einigen grandios überzeichneten Gegenspielern, die direkt einem Eurospy-Reißer der dritten Reihe entsprungen scheinen. Währenddessen fischen sie ein totes Mädchen nach dem anderen im Dead Man's Hole aus der Themse; einer Leichenhalle unter der Tower Bridge, wo angespült wird, wer freiwillig oder nicht in den Fluten untergeht.
Dem misstrauischen Inspektor John Frobisher ist es daher gerade recht, dass die Bibliothekarin Gwendolen Kelling in London nach der verschwundenen Schwester einer alten Freundin sucht, und er rekrutiert sie vom Fleck weg, um im Inneren des Coker-Imperiums für ihn zu spionieren.
Von der ersten Seite an ist "Nacht über Soho" schier überwältigend, mit seinem riesigen Figurenensemble, dessen Mitglieder unentwegt umeinander herum- und allzu häufig knapp aneinander vorbeitanzen, mit seinen verzweigten Handlungssträngen und Rückblenden, der überbordenden Sprache und der Metaebene um einen Roman im Roman. Aber alle Fäden laufen schließlich bei der von der irischen Nachtclub-Königin Kate Meyrick inspirierten Nellie Coker zusammen, die ihr größtes Etablissement auf den Namen "'Amethyst" getauft hat und dabei selbst funkelt wie der in unzähligen Facetten geschliffene Edelstein.
Nicht einmal ihre Kinder wissen, wer diese Nellie genau ist und welche ihrer Eigenheiten sie nur zugunsten ihres Images kultiviert, und genauso versteht es die Autorin, falsche Fährten zu legen, den Ausgang einer Situation so lange wie möglich in der Schwebe zu halten, Dinge nur elegant anzudeuten und ihre Leser trotzdem alles Nötige wissen zu lassen. Manchmal ist ihre Sprache womöglich ein bisschen zu sehr auf Schönheit bedacht, wie wenn in einem Krimi des Classical Hollywood ein geschmackvoll gesetzter Schnitt das Schlimmste zu sehen verhindert oder wenn die Wunde im Gesicht der Schauspielerin so platziert ist, dass sie ihre Züge schmeichelhaft rahmt.
Etwas tiefer geht Atkinson in der Gesellschaftsanalyse, legt punktgenau den Finger sowohl auf den kollektiven Hedonismus der Zwanzigerjahre als auch auf die Empathielosigkeit Einzelner, die sie als Folgen des Weltkriegstraumas identifiziert. Hart gewordene Frontheimkehrer stehen hier neben von ihren Verlusten überforderten, allzu oft alleingelassenen Frauen, aber auch neben Ausnahmen wie Gwendolen, die die Jahre als Krankenschwester zur krisenfesten Anpackerin gemacht haben. Doch die ausladende Breite von Atkinsons Erzählung hat ihren Preis. So schillernd und vielschichtig ihre Figuren auch sind, drohen sie sich zuweilen gegenseitig zu überstrahlen, und wenn die Geschichte etwas überstürzt zu ihrem Ende kommt, bleibt statt ihrer Schicksale in erster Linie die Staffage in Erinnerung.
Vergleichbar etwa mit der Serie "The Crown" über die britische Königsfamilie reichert die Autorin "Nacht über Soho" mit Atmosphäre und Wissensfetzen an, die nicht in regulären Geschichtsbüchern stehen, aber den damaligen Zeitgeist greifbarer machen: die Kontroverse um Michael Arlens 1924 erschienenen Skandalroman "Der grüne Hut" mit seinen expliziten Beschreibungen von Geschlechtskrankheiten und Homosexualität. Die nach der Öffnung des Tutanchamun-Grabes 1922 ausgebrochene Ägyptomanie und Panik vor dem Fluch des Pharaos, die ausgeklügelten Maschen der rein weiblichen Diebesbande Forty Thieves, die Partys der Bright Young Things und das Engagement der Suffragetten. Sie alle verwandeln die Lektüre in einen ausgelassenen Rausch, der einen am Schluss zurück ins Tageslicht taumeln lässt wie nach einer wild durchtanzten Nacht. KATRIN DOERKSEN
Kate Atkinson: "Nacht über Soho". Roman.
Aus dem Englischen von Anette Grube. Dumont Verlag, Köln 2025.
528 S., geb.
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