Sommerfrische in Bayern, 1918. Die Familie Thomas Mann hat ein Haus am Tegernsee gemietet. Es sollen unbeschwerte Monate werden - doch die Welt verändert sich dramatisch, und auch der Schriftsteller wird bald ein anderer sein.
Die Kinder schwimmen und angeln Rotaugen, der Vater rudert, geht spazieren und besteigt erstmals einen Berg, die Mutter kümmert sich um das neue Baby, und Bauschan, der Hund, döst im Schatten, während ihn Thomas Mann gerade zum Helden seiner Erzählung »Herr und Hund« macht.
Ein Idyll, doch den Schriftsteller plagen Sorgen. Die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg steht bevor, Revolution liegt in der Luft, und mit seinem antidemokratischen Manifest »Betrachtungen eines Unpolitischen« sitzt Thomas Mann historisch auf dem falschen Dampfer. Mit seinem Bruder Heinrich hat er sich deswegen überworfen, für die Arbeit am nächsten großen Werk »Der Zauberberg« fehlt ihm die Kraft, und dann fällt ihm auch noch ein Zahn heraus.
Kerstin Holzer schreibt mit Wärme und Humor über einen ganz besonderen Sommer im Leben des Literatur-Nobelpreisträgers, über dessen Ängste und Sehnsüchte. Eine federleichte Geschichte über den Mut zur Veränderung und die Kraft der Liebe.
Besprechung vom 15.06.2025
Selbstfindung mit Seeblick
Sommerlektüre: Thomas Mann macht Ferien
Und noch ein Thomas-Mann-Buch, mag man ausatmend raunen, nachdem vergangenes Jahr der "Zauberberg" 100 wurde und in diesem Jahr der 150. Geburtstag des Schriftstellers mit weiteren Publikationen gewürdigt wird. Aber "Thomas Mann macht Ferien", das sei hier gleich gesagt, ist trotz des Überangebots ein ebenso überraschendes wie lesenswertes Buch. Die Münchner Journalistin Kerstin Holzer widmet sich darin dem Sommer 1918, den Monaten Juli, August, September, die Thomas Mann mit der gesamten Familie in der Villa Defregger in Abwinkl am Tegernsee in Bayern verbracht hat. Diese drei Monate sind ein bislang vernachlässigtes und zugleich bedeutsames Kapitel im Leben des späteren Nobelpreisträgers. Die Welt befindet sich an einem Wendepunkt: Es zeichnet sich ab, dass Deutschland den Krieg verliert, die Stimmung kippt, bald wird die Monarchie Geschichte sein und die Weimarer Republik das Land verändern. Und auch Thomas Mann befindet sich an einem Wendepunkt, wie Holzer präzise herausarbeitet, dabei aber nie die Leichtigkeit ihres Erzähltons verliert. Ihre These: Der damals 43 Jahre alte Dichter hat am Tegernsee, in der Natur der bayerischen Alpen, im Kreise seiner Lieben, in der Distanz zur Welt, zu sich selbst gefunden, zur Liebe, zum Vaterglück, zu einer neuen, optimistischen Lebenshaltung.
In den turbulenten Zeiten ist die Unterkunft am Ringsee, einer runden Bucht am südlichen Ende des Tegernsees, ein Schutzraum und Rückzugsort, an dem sich die Manns für zehn Wochen einmieten. Alle finden sie hier ihr Glück: Thomas, Katia, die Kinder Klaus, Erika, Golo, Monika, die kleine Elisabeth und Bauschan, der Hund. Es kommt Besuch aus München, die Schwiegereltern Alfred und Hedwig Pringsheim und Thomas Manns Freund Ernst Bertram, die Kinder planschen im See, die Eltern rudern und machen eine Bergtour. Thomas Mann macht Mittagsspaziergänge mit Hund, muss zum Zahnarzt, weil er einen Schneidezahn verloren hat - all das wird sich in seinem Werk niederschlagen.
Es ist aber vor allem die Natur, die seine Stimmung beeinflusst. Die Bäume, die Berge, der See. Kerstin Holzer schafft es, dessen zauberhafte Ausstrahlung in die Gegenwart zu heben. "Seit dem letzten krachenden Gewitter glänzt der Ringsee in der Früh wie ein Spiegel vor dem Defregger-Haus. In der Morgenluft hängt seidige Kühle. Die steigende Sonne erwärmt den Tag, und doch: Der Sommer erwacht aus seiner glühenden Schläfrigkeit", schreibt sie über die letzten Urlaubstage im September 1918. Und das ist nicht das einzige Liebesbekenntnis an die ihr wohlbekannte Gegend, die damals auch schon touristisch, aber doch noch deutlich ertragbarer und erschwinglicher war. Über historische Zeitungsberichte und Gespräche mit Museumsleitern und Heimatforschern gelingt es ihr, ein Bild der touristischen Situation der Zeit zu zeichnen. So erfährt man, dass es schon damals schwer war, in der Hochsaison ein Zimmer für die Besuche zu bekommen, dass im Gasthof "Überfahrt" Konzerte stattfanden und die Prominenz aus München (etwa rund um Ludwig Thoma) sich schon vor über 100 Jahren im "Bräustüberl" auf ein Bier traf.
Thomas Manns Werk ist 1918 noch jung. Die "Buddenbrooks", "Tonio Kröger" und "Tod in Venedig" sind bereits erschienen, die "Betrachtungen eines Unpolitischen", ein 600-Seiten-Buch, bereits vollendet, aber noch nicht auf dem Markt. Ein Buch, das er jetzt, in dieser düsteren Weltlage und vor Deutschlands drohender Kriegsniederlage, "eigentlich genauso gut im Garten verbrennen könnte", wie Holzer schreibt. Zur Ablenkung beginnt er eine harmlose Novelle und eine Liebeserklärung an sein Haustier: "Herr und Hund. Ein Idyll". Auch den "Zauberberg" hat Thomas Mann bereits begonnen, aber wieder zur Seite gelegt. In den Sommerferien 1918 sammelt er Ideen für die Fortsetzung und liest auf der Terrasse der Ferienvilla Adalbert Stifters Text "Aus dem bayerischen Walde", eine Art Schablone für das spätere "Schneekapitel" im Zauberberg.
Um all diese Einflüsse und Inspirationen zu belegen, zitiert Holzer scheinbar beiläufig aus Tagebüchern, Briefen, Erzählungen und Romanen, aus Erinnerungen der Kinder, Memoiren der Frau Katia und Aufzeichnungen der Schwiegermutter Hedwig Pringsheim, die, wenn der Dichter mal wieder kränkelte, augenrollend von seiner "Bauchmigräne" sprach. Mit seinen Tagebucheinträgen hat Thomas Mann übrigens unmittelbar nach der Sommerfrische am See angefangen. Auf der ersten von Tausenden von Seiten, die in den nächsten Jahren folgen werden, hat er vermerkt: "Tegernsee lebt noch in mir." Andreas Lesti
Kerstin Holzer: "Thomas Mann macht Ferien. Ein Sommer am See", Kiepenheuer & Witsch, 200 Seiten
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