Der wichtigste chinesische Lyriker in einer klugen Auswahl neu übersetzt
In der faszinierenden Welt der chinesischen Poesie bildet Li Bo (auch als Li Bai oder Li Tai Bo bekannt) eine der wichtigsten Stimmen. Seine zeitlosen Gedichte geben in verblüffenden und schönen Bildern faszinierende Einblicke in die Tiefe und Vielfalt der Welt.
Der Sinologe Thomas O. Höllmann hat für diesen Band aus dem Gesamtwerk die schönsten Texte klug ausgewählt, neu übersetzt und gibt zugleich einen hinreißenden Einblick in die Werkstatt des Übersetzers.
Besprechung vom 22.02.2025
Das unbekannte Genie
Thomas O. Höllmanns Gedichtauswahl des chinesischen Klassikers Li Bai
Eines der größten kulturellen Zeugnisse der Menschheit stellt die chinesische Dichtkunst dar. Sie hat ihren Ursprung vor gut viertausend Jahren im religiösen Bereich und lebt unter veränderten Umständen heute noch: Am Anfang steht der Endreim und am Ende der freie Vers. Namen großer Vertreter lassen sich in Hülle und Fülle aufzählen, doch sie sind im Abendland wenig bekannt. Das liegt nicht etwa an mangelnden Übersetzungen, am allerwenigsten im deutschen Sprachraum. Da existieren seit gut hundert Jahren hinreichend Anthologien und mitunter Einzeldarstellungen. Doch der sicherlich dem Namen nach noch bekannteste Poet, Li Bai (701 bis 762), ist, wiewohl zur Weltliteratur gehörig, selbst unter hiesigen Literaturbeflissenen selten präsent.
Der bedeutende britische Sinologe Arthur Waley veröffentlichte zwar 1959 eine Biographie, doch erklärte er hierin seinem Gegenstand eine Absage. Der Grund: dessen Zuchtlosigkeit. Erst 2019 folgte der ursprünglich chinesische Autor Ha Jin mit einer freundlichen und gut lesbaren Lebensdarstellung, die vier Jahre später auf Deutsch als "Der verbannte Unsterbliche" erschien. Ha Jin beließ es allerdings bei rekonstruierten Fakten und wenigen, recht prosaischen Übertragungen. Ansonsten findet sich weltweit, sieht man einmal von Ostasien ab, kaum ein weiterer wichtiger Beitrag zu Li Bai.
Dies ist umso verwunderlicher, als von dem großen österreichischen Sinologen Erwin Ritter von Zach (1872 bis 1942) im "Westen" längst eine bis dato einzigartige Gesamtübersetzung vorliegt, die 1924 begonnen und von 2000 an neu aufgelegt wurde. Günther Debon (1921 bis 2005), neben Ezra Pound der beste Übersetzer chinesischer Lyrik, hat den deutschen Leerraum zwischen diesen beiden Ausgaben mit seiner Fibel "Li Tai-Bo" (Reclam 1962, Neuauflage 2009) aufgefüllt, leider aber die eigenen grandiosen Übertragungen wenig gedeutet. Zu seiner Zeit verstand sich Sinologie eher als Philologie, das heißt als "wortwörtliche" Wiedergabe alter Texte und weniger als Analyse.
Und überhaupt: Hat nicht Gustav Mahler mit seinem "Lied von der Erde" (1908) Li Bai ebenso verewigt wie die deutsche Boheme um 1900 in ihren Werken und Clemens von Franckenstein mit seiner Oper "Li-Tai-Pe - Des Kaisers Dichter" (1920), die bis 1945 immer wieder aufgeführt und 2022 vom Bonner Opernhaus neu entdeckt wurde? Waltet also immer noch ein moralisches Verdikt hinter der Gleichgültigkeit gegenüber Li Bai?
Gegenwärtig hat chinesische Literatur, ob jung oder klassisch, einen immer schwierigeren Stand an deutschsprachigen Universitäten. Die Meister von einst sind verstorben, emeritiert, oder ihre Lehrstühle wurden umfunktioniert. Wer sich derzeit der Schreibkunst Chinas annimmt, steht außerhalb fast aller Institutionen und brät seine Extrawurst. Kunden? Im Falle von Thomas O. Höllmann ja! Der ehemalige Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hat sich in den letzten Jahren als Sinologe auf die Vermittlung chinesischer Poesie verlegt und dabei nicht wenig Aufmerksamkeit gewonnen, so insbesondere mit seiner Anthologie "Abschaum" (2020). Nun legt er seinen Li Bo vor.
Allein mit diesem Namen beginnen meine Probleme: Niemand spricht den Dichter in China so aus wie der Münchener Gelehrte. Es hat Li Bai zu heißen, nicht Li Bo. Es ist eine Unart der Sinologenschaft, den Chinesen Aussprache und Umschrift nach uralter Manier vorschreiben zu wollen und damit die deutsche Leserschaft zu verwirren. Zum anderen: Für die chinesische Literatur haben sich, warum auch immer, blumige Titel eingebürgert. "Seidenreiher über allen Gipfeln" ist nur einer von unzähligen. Ein Drittes: Höllmann bietet dankenswerterweise eine zweisprachige Ausgabe, zieht zum Unglück der Chinesischkundigen jedoch Lang- statt Kurzzeichen vor. Die vermögen mittlerweile die wenigsten noch zu entziffern.
Was bleibt also? Das Deutsche. Der Übersetzer versteht seine Sache, man muss aber, wie der Kölner Sinologe Volker Klöpsch schon im Falle von "Abschaum" nachgewiesen hat, mit Kürzungen, Auslassungen, Hinzufügungen einverstanden sein. Das lässt sich heute nicht nur gemäß Ezra Pounds Diktum "Make it new" rechtfertigen, sondern ebenfalls dank hochkomplexer Übersetzungswissenschaft aus deutschen Landen. Doch wer blickt da durch? Die Fachwelt, ja. Was bekommt die herkömmliche Leserschaft geliefert? Eine rein prosaische Adaption ohne viel poetischen Einschlag, keinen Reim, keinen Rhythmus, keine Ästhetik.
Um nur ein Beispiel zu nennen. Ein grandioser Doppelvers kommt bei Höllmann wie folgt daher: "Die Wolken geleiten Dich auf Deinem Weg, / die Freundschaft trotzt der Dämmerung." Nach chinesischer Poetik hätte es wie bei Debon, den Höllmann hier als "altväterlich" verdammt, besser geklungen: "Treibende Wolken: des Wandernden frohe Gedanken; / Sinkende Sonne: so fühlt, der ihm traut" - so liest man in "Li Tai-Bo".
Geht man ins Detail, wird leider immer wieder klar, dass der Übersetzer nicht auf der Höhe neuerer Erkenntnisse ist. Er überträgt das chinesische Zeichen jiu ausschließlich als "Bier" oder gar "Märzen" und kommt damit zur falschen Einschätzung vom "Picheln bei den Barbarenmädchen". Man trank aber damals Traubenwein, den persische Händler in die kosmopolitische chinesische Hauptstadt brachten. Junge Frauen schenkten den Wein auf den Straßen aus und neckten junge Zecher wie Li Bai mit mancher Tanzeinlage.
Liest man das Nachwort, gewinnt man den Eindruck, dass Höllmann seinen Dichter Sänger ähnlich wie einst Waley moralisch ablehnt. Da liest man neben ebenso bekannten wie langweiligen Anekdoten unglaubliche Charakterisierungen Li Bais wie "Großmaul", "Klischee", "Banalität", "abschätzig" (gegenüber Frauen), "Stereotypen", "bipolar", "rückwärtsgewandt", "Reaktionär", "nie ein Neuerer", "egozentrisch". Zu guter Letzt fragt man sich, warum es dann überhaupt dieses Buch braucht, dem der Rezensent allerdings manchen übersehenen großen Text verdankt (und er hat selbst schon eine Auswahl Li Bais herausgegeben). Doch das gleicht nicht das Gros der hier versammelten zuvor schon zigmal übersetzten Verse aus. WOLFGANG KUBIN
Li Bo: "Seidenreiher über allen Gipfeln". Gedichte chinesisch/deutsch.
Ausgewählt, aus dem Chinesischen und hrsg. von Thomas O. Höllmann. Reclam Verlag, Ditzingen 2024. 214 S., Abb., geb.
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