"So sehe ich euch, wenn ihr schlaft, das bin ich, das sind meine Erinnerungen, meine Augenblicke. Ich bewahre sie für euch auf, bewahre diesen Moment auf, damit ihr ihn hervorholen könnt, die Spuren hervorholen, und euch an mich und meinen Blick auf euch erinnern könnt, wenn ich nicht mehr hier bin, wenn ihr ohne mich seid."InhaltAm 06. Juni bleibt wie von Zauberhand die Zeit stehen, die Entwicklung des Menschen stagniert, weltweit, ohne erkennbare Ursachen. Zellen teilen sich nicht mehr, das Altern hört auf, die Menschen verharren in jenem Augenblick und wissen nicht, für wie lange dieser Zustand anhalten wird, für welchen Zeitraum sie die Ewigkeit nun für sich beanspruchen können. Aber tatsächlich dauert die Freude über die gewonnene Zeit verhältnismäßig kurz an, denn wer keinen Hunger mehr verspürt, seine Tage mit immer gleichem Wissensstand verbringt und wie ein Hamster im Rad stets die gleichen Runden dreht, wird dem sehr schnell überdrüssig. Und Menschen, die sich gerade in einer sich verändernden Lebensphase befinden, empfinden es noch wesentlich bedrohlicher: ein Vater, dessen Ungeborenes für immer in der 28. Woche im Körper seiner Frau verweilt, ein Senior dessen Frau einsieht, dass sie die Unendlichkeit nach 50 Ehejahren nicht mehr mit ihm teilen möchte, eine sterbenskranke Mutter zweier Heranwachsender, die doch immer nur die gleichen Söhne kennen wird, ein Kindergartenkind und ein jüngeres Schulkind.Und während die Regierung krampfhaft überlegt, wie sie die Gesellschaft bei Laune hält, entscheiden sich immer mehr Menschen dafür, dass die Ewigkeit nur Stillstand bringt und weder Glück noch Freude und sie erkennen, das das Festhalten des Augenblicks keine Zukunft mehr verspricht. Sie wollen ihren ungewissen Zustand lieber heute als morgen beenden und ersinnen diverse Möglichkeiten, dem Weltgeschehen zu entkommen.MeinungVon der norwegischen Autorin Maja Lunde haben ich vor einigen Jahren bereits ihren Roman "Die Geschichte der Bienen" gelesen und dieser hat mir gut gefallen, allerdings sprach mich die Thematik ihres aktuellen Romans noch um einiges mehr an. Die Frage nach dem Glück der Ewigkeit, die Sehnsucht nach Unsterblichkeit - all das sind philosophische Themen, mit denen ich mich gedanklich gern beschäftige. Ich bin sehr froh darüber, dass dieser Roman ausschließlich diese Seite beleuchtet und weder in Richtung Fantasy noch Science-Fiction abdriftet, denn dann hätte er mir sicherlich viel weniger gefallen. Der einzige Nachteil des Ganzen ist die unzureichende Aufklärung, denn wer sich für die Ursachen der Handlung interessiert, bekommt hier wenig geboten.Umso umfassender sind die vielschichtigen Gedanken der gut gewählten Protagonisten und der entsprechenden Bilder ihres gegenwärtigen, nun anscheinend nie enden wollenden Lebens. Hier konnte ich mich trotz komplexer Szenarien hervorragend in die Gedankenwelt des jeweiligen Erzählers hineinversetzen und die Gefühle hautnah miterleben. Ihre kurzen Hoffnungen, die langen inneren Dispute, die Maßnahmen zur Beendigung des kaum noch ertragbaren Zustands - all dies schien mir sehr realistisch und beängstigend zugleich.Dieses Buch kann man schnell und flüssig lesen, die Sprache selbst ist eher einfach und hätte literarisch noch mehr ausgereift sein können, allerdings liegt der Fokus mehr auf den Folgen des Geschehens und dem Umgang der Menschheit mit solch einem Problem, einem wie es scheint rein Fiktiven.FazitEin ganz tolles Buch, dem ich gerne 5 Lesesterne gebe, weil es so unbedeutend beginnt und sich immer weiterentwickelt. Der langsame Prozess des Denkens, der hoffnungsvolle und gleichzeitig sorgenreiche Blick auf die Zukunft, die es so nicht mehr gibt, wie wir sie uns alle irgendwann vorgestellt haben und Ängste, die wir bisher nicht hatten. Dieser Roman eignet sich bestens für eine Leserunde, er bietet viel Gesprächsstoff, gibt keinerlei Wertung ab und wahrt stets die Distanz.Dennoch schafft er warmherzige Nähe zu Otto, Jenny, Ellen und Jakob - Menschen, wie jeder andere auch: mit einer Vorgeschichte und einem Recht auf ein Morgen, welches hier leider abhandengekommen ist. Die Einsicht nach 300 Seiten - nur was wachsen und gedeihen kann, nur was Raum und Zeit bekommt, ist erstrebenswert. Alles Gute und alles Schlechte hat seine Zeit, nur wer beides kennenlernen und erleben kann, bekommt ein Gefühl für innere Zufriedenheit, selbst wenn es bedeutet, die Schönen Dinge zu verlieren, deren Wert man andernfalls aber niemals erkannt hätte.