
Der Erstling des Nr. 1-Bestsellerautors
«Isaac Newton war ein Apfel auf den Kopf gefallen ein Prozess von kaum einer Sekunde und er war schlagartig auf den Weg in die Weltgeschichte geführt worden. Anders als Newton hatte Anton einen Plan, allzu schwierig konnte es also nicht werden.»
Anton hat Krebs und niemanden, der sich an ihn erinnern wird. Er versucht alles, um in die Geschichte einzugehen und nicht in Vergessenheit zu geraten. Der geregelte Alltag des alten Witwers ist damit zu Ende. Plötzlich treten die Polizei, eine angehende Schauspielerin und ein junger lebensmüder Existenzialist in sein Leben. Und die Frage, was das Leben lebenswert macht.
Ein Buch über unseren Umgang mit der Vergänglichkeit, der Zeit und dem Leben. Ein Buch über Freundschaft, Ängste, Einsamkeit und den Mut, neu zu beginnen.
Besprechung vom 07.09.2025
Der Wald von gestern
Der Schweizer Schriftsteller Nelio Biedermann erzählt in seinem Familienroman "Lázár" ein ganzes Jahrhundert.
Von Timo Posselt
Das hatte man nicht kommen sehen. Was dem Schweizer Autor Nelio Biedermann, geboren 2003 am Zürichsee, mit seinem zweiten Roman "Lázár" gelingt, hatte keinen Vorgänger. Biedermanns Debütroman, "Anton will bleiben", erschienen 2023 beim kleinen Arisverlag, war ein unauffälliges Buch. Es deutete zwar an, an welchen Vorbildern der literarischen Moderne der junge Schriftsteller sich orientierte, gleichzeitig war zu spüren, dass hier noch einer nach seiner Stimme suchte. Nun hat Biedermann, inzwischen 22 Jahre alt, sie mit seinem zweiten Roman gefunden.
Die Erzählung von "Lázár" setzt ein, als das 19. Jahrhundert gerade endet. Oder, wie es im ersten Satz heißt: "Am Rand des dunklen Waldes lag noch der Schnee des verendeten Jahrhunderts." Mit epischer Ausdauer entspinnt Biedermann daraufhin eine Geschichte über eine weitverzweigte ungarische Adelsfamilie, die den Katastrophen des anbrechenden Jahrhunderts zu trotzen versucht. Ihr jüngstes Kind, Lajos von Lázár, wird zu Beginn des Jahres 1900 geboren und erweist sich sogleich als "Glaskind" mit "transparenter Haut", unter der die Organe durchschimmern.
Lajos wächst in einem Waldschloss in der Nähe der südungarischen Stadt Pécs auf. Sein Vater, Baron Sándor von Lázár, hat sein Leben so eingerichtet, dass er im "verschachtelten Dahineilen des Alltags" die Traditionen wahrt. Dafür traktiert er seine Familie mit kühler Strenge. Er liest den Budapester "Tagesanzeiger" statt des Lokalblatts, weil er der Ansicht ist, als "Herr der Ländereien" mehr über die Weltlage wissen zu müssen, "als die Menschen, die darauf lebten, arbeiteten und sich vermehrten". Lajos' Mutter Mária leidet unter der zerrütteten Ehe und ritzt sich mit dem Rasiermesser die Unterarme. Lajos' Schwester Ilona liegt nachts wach und hört dem Kindermädchen und ihrem Liebhaber zu, "unterdrückte animalische Laute" - worauf sie eine "Vorahnung von etwas Großem, Bedeutendem" erfüllt, gegen die nur ein Kopfkissen zwischen den Schenkeln hilft.
Rätsel umgeben das Waldschloss. Wo ist Lajos' Großvater, der eines Tages von einem Jagdausflug nicht zurückkehrt? Eine Leiche hat man nie gefunden. Nach seinem Verschwinden läuft die Großmutter immer wieder in den Wald, was hat sie dorthin gelockt, dass sie irgendwann nicht mehr aufgehalten werden kann? Wovor fürchtet sich Lajos' Onkel, dessen "Naturschwärmerei" mit dem Verschwinden des Großvaters ein jähes Ende nimmt und der seither wirr und unzusammenhängend spricht?
Der Erste Weltkrieg erreicht das Waldschloss mit Verspätung. Schließlich muss die entsprechende Tageszeitung erst nachmittags aus Budapest geliefert werden. Während im Sommer 1916 in Verdun Granaten fallen, feiern die Lázárs Ilonas Hochzeit mit einem preußischen Privatbankierserben. Lajos ist derweil im Internat und angewidert von seinen schneidigen Kameraden, die über die Mädchen sprechen wie über Schlachtfelder, die es "zu bestürmen" gilt. Ilona dagegen phantasiert davon, im Bett einen Mann zu dominieren, der "ums nackte Überleben kämpft" und "andere Männer tötet". Sex und Begehren ziehen sich durch diesen Roman, selten lustvoll, meist als dunkler Trieb. Als Lajos, inzwischen selbst verheiratet, von seinem Sohn Pista beim Sex beobachtet wird, sieht dieser ihn mit der Mutter zu einer "keuchenden Kreatur" verwachsen, der "jede Vernunft, jede Selbstbeherrschung, alles Menschliche" fehlt. Unausweichlich kreuzt sich der Sexualtrieb der Figuren irgendwann mit der Blutspur der Kriege und Systemstürze, die bald auch die Familie Lázár nicht mehr verschonen. Die Erzählung endet, als sie die eigene Familiengeschichte des Autors berührt: Nelio Biedermann ist der Nachfahre ungarischer Adliger, die im Zuge des Ungarnaufstandes 1956 in die Schweiz flüchteten.
Staunend liest man diesen Roman, der aus dem ungarischen Wald heraus ein Panorama des Jahrhunderts entfaltet, das sich schließlich über vier Generationen und fast fünfzig namentlich erwähnte Figuren spannt, die alle Ängste, Träume, Geheimnisse in sich tragen. Das Motiv des Waldes, im ersten Satz eingeführt und bald mit einer Referenz auf E.T.A. Hoffmann unterlegt, lässt Biedermann zu einem Gewebe organischer Sprachbilder verwachsen, die sich aufeinander beziehen. Sei es die Lüge über Lajos' Vaterschaft, die ihr "Wurzelnetz" in den Boden treibt und bald mit ihrem "Blätterdach" das ganze Waldschloss "überschattet". Oder wenn eine der vielen Verliebten in diesem Roman beim Anblick des Begehrten "wie ein Reh am Straßenrand" steht, "das vom grellen Licht eines Autoscheinwerfers erfasst wird, erstarrt, mit gespannten Muskeln und verschreckten Augen verharrt", als erahne sie bereits, dass die Zeit die Liebe bald überfahren wird. Mit liebevollen Miniaturen erweist Biedermann seinen literarischen Vorbildern Referenz: von Marcel Prousts Gutenachtkuss über Joseph Roths Schwermut bis zu Thomas Manns Krankheitsmetaphern. In einer kurzen Binnenerzählung von einem Blinden, dem die Bauern in einem Dorf zur Belustigung Holz, Blätter, Dreck zu essen geben, bis man seinen Kadaver im Frühjahr findet, "als der Schnee schmolz und ein dichter Schwarm Raben unablässig über der Ebene kreiste". So was vergisst man nicht, das fasst einen an, es hätte eine eigene Novelle werden können.
Die literarischen Mittel, die Biedermann dabei aufbietet, sind beeindruckend. In die auktoriale Stimme des oft fabulierenden Erzählers arbeitet er beispielsweise wiederholt motivisch verankerte Gedichte ein, um kurz darauf die politischen Umwälzungen der Zeit in einem kühlen Telegrammstil zu verknappen. Einzig das "völlig verquollene Geschöpf" Lajos verliert nach der Geburt merkwürdigerweise seine körperlichen Eigenschaften. Als Ungarn 1941 der Sowjetunion den Krieg erklärt und sich an Hitlers Seite stellt, kümmert sich Lajos um "Organisatorisches". Angesichts der kalkulierenden Verbrechen, die sich hier anbahnen, verarmt zusehends die Sprache. Manchmal gelingen dem Autor Szenen filmischer Kraft. Als Lajos' Vater Sándor einer Affäre nachstellt und der Blick des Erzählers herauszoomt beispielsweise: Plötzlich wird er zu den Greisen, die die Szene mit aufgestützten Ellbogen am Fenster beobachten. Was Sándor der zukünftigen Geliebten sagt, dass sie ihn schließlich hereinlässt, können die Greise wie die Leser bloß erahnen: "Sein Mund bewegte sich lang und mechanisch, so als wäre er eine kleine Maschine."
"Was tut ein Schriftsteller anderes", denkt Eva, die Jüngste der Lázárs, fast am Ende des Romans, "als seinen Figuren das Recht auf Selbstbestimmung zu nehmen." Er lege ihnen Kriege in den Weg, schreibe ihnen Depressionen in die Seele oder entreiße ihnen ihre erste Liebe. Der Schriftsteller, sagt Eva, mache all das, "um sich seiner Überlegenheit zu vergewissern". Doch sie irrt. Denn mit dem Roman "Lázár", der in achtzehn Sprachen übersetzt erscheinen wird, zeigt sich Nelio Biedermann als ein junger Schriftsteller, der seinen Figuren Rätsel zugesteht, die er womöglich selbst nicht einmal begreift, doch die letztlich den Zauber von großer Literatur ausmachen können.
Nelio Biedermann, "Lázár". Rowohlt Berlin, 331 Seiten
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.