In Ocean Vuongs neuem Buch erzählt er die Geschichte von Hai, einem vietnamesisch-stämmigen Jungen aus einem kleinen Ort in New England. Bereits im ersten Kapitel wird man als Leser in eine raue, harte Wirklichkeit hereingezogen. Wie eine Stimme aus dem Off wird die Stadt mit all ihren unangenehmen Seiten beschrieben. Man hat das Gefühl, dass jemand erzählt, der dort lebt. Das ist technisch gut gemacht, aber man bekommt direkt und ungeschönt ein Gefühl davon, was einen im weiteren Verlauf des Romans erwartet.
Denn kurz später ist man an der Seite von Hai, der von einer Brücke springen will, um sich das Leben zu nehmen. Eine alte Frau, die das beobachtet, hält ihn davon ab. Die beiden freunden sich an und er zieht bei ihr ein. Auf diesem Grundgerüst baut die weitere Geschichte auf. Man erfährt etwas aus Hais Vergangenheit, was ihn in seine Situation gebracht hat, und etwas aus seinem Leben danach.
Es hat nicht lange gedauert, bis ich beim Lesen des Buches ein unangenehmes Gefühl hatte. Das liegt daran, dass der Autor den Leser einfach maßlos, mit negativen Dingen überfordert. Es geht um Suizidthemen, Krieg, Medikamenten- und Drogenmissbrauch, Entzug, Schizophrenie, Depression, Albträume, soziale Ungerechtigkeit, Gefängnisstrafen etc. In meinen Augen ist das maßlos. Und sorgt somit dafür, dass es schwer wird, Nähe zu den Charakteren aufzubauen. Die Gabe zu schreiben besitzt Vuong ganz sicher. Und seine Entscheidung, die düstere Seite des Lebens zu zeigen, ist eindeutig. Aber wie immer im Leben ist weniger häufig mehr. Er gerät mit der Anhäufung der Themen in eine Disbalance. Ein Beispiel dafür ist eine Szene, in der ein Vater mit seinen zwei Kindern in einen Diner kommt, in dem Hai arbeitet. Eigentlich geht es dort um die Kinder, die sich über die Angestellten lustig machen und sie rassistisch beleidigen. Ich habe mir nur die Frage gestellt, warum der Vater auch noch unter den Folgen einer Kehlkopf-Krebserkrankung leiden muss, in dem er sich ein Gerät an den Kehlkopf halten muss, um sich ausdrücken zu können. Mit diesen teils abstoßenden Szenen sorgt er natürlich dafür, dass man als Leser solche Szenen im Kopf behält. Bei mir allerdings sorgte es dafür, dass ich auf eine erhöhte Distanz zu dem Roman und seinen Figuren ging, was nicht hilfreich ist. Ich würde es am ehesten als Trash-Poesie beschreiben, etwas, was ich schon in früheren Romanen von Vuong gespürt hatte, aber nicht mit den passenden Worten beschreiben konnte. Er leuchtet die dunkle Seite des amerikanischen Traums aus. Und seine Version davon hat wenige Lichtblicke.
Unmittelbar vor Der Kaiser der Freude habe ich The Horse von Willy Vlautin gelesen. Auch dies ist ein problembehaftetes Buch, in dem es um ein Leben geht, das von Schicksalsschlägen gezeichnet ist. Aber Vlautin gelingt es im Gegensatz zu Vuong, den Leser nicht herunter zu ziehen. Bei Vlautin gibt es immer Liebe und Hoffnung. Das ist in dem hier vorliegenden Roman zwar auch vorhanden, drängt aber lange nicht in den Kern durch, so dass permanent ein grauer Schleier über dem Buch liegt.
Es gibt immer auch wieder gute literarische Momente, wenn Vuong z.B. von Dostojewskyj spricht. Oder wenn er in mehreren zeitlichen Schichten schreibt und über diese Zeitsprünge weitere Hintergründe preisgibt, damit der Leser die Welt von Hai besser versteht. Aber es hält nie lange an, bis wieder Trash auf ihn wartet. Eine Szene spielt in einem Schweine-Schlachthaus. Und ich muss sagen, dass der versteckte Humor mich hier nicht mehr erreicht hat. Ebensowenig wie die Gesellschafts-Kritik, die der Autor hier verwebt. Auch wenn ich mich dieser anschließen würde, mag ich nicht die Art und Weise, mit der es hier passiert.
Aber es gibt auch die starken, die leisen Momente, in denen Ocean Vuong strahlt. Ich habe die in der Beziehung zu Grazina, in Gesprächen mit seinem Cousin Sony oder in den wenigen Kontakten zu seiner Mutter gefunden. Hier geht es häufig um Herkunft und Spuren aus der Vergangenheit, die im Jetzt eine starke Wirkung entfalten. Manchmal kommt alles zusammen, wenn der Autor tief in die Seelen schaut, in einer Situation, die den Leser verstummen lässt, wenn er gleichzeitig das Licht beschreibt, das diese Szene ausleuchtet und die Sinne berührt. Das waren Momente, in denen ich mich an John Irving oder Benedict Wells erinnert gefühlt habe. Das waren die starken Momente des Romans.
Und nach einer gewissen Zeit waren auch die Trashthemen plötzlich nicht mehr da. Ab der knappen Hälfte des Romans fokussiert sich der Autor auf das, was er eigentlich erzählen will. Die Beziehung von Hai und Grazina, die Geschichte der Menschen, die im Diner arbeiten. Er erzählt die Geschichte von Außenseitern, die am Rand der Gesellschaft leben, von Leben, die sich häufig schwer ertragen lassen, Von dem, was das Leben wirklich ausmacht: Freundschaft, Zusammenhalt, Akzeptanz. Und auf den letzten Seiten bringt der all das in vollkommener literarischer Kraft zueinander.
Fazit: Es ist unglaublich schwer, diesen Roman angemessen und fair zu bewerten. Vuong macht es dem Leser im ersten Drittel extrem schwer , indem er belastende Themen in den Mittelpunkt stellt und meines Erachtens damit zu viel will. Hätte er sich auf wesentliche Felder fokussiert, hätte man es besser und auch eindringlicher verarbeiten können. Mit zunehmender Dauer wird der Roman immer stärker, genau dann, wenn er sich auf die Geschichte selbst konzentriert und die Gesellschaftskritik in den Hintergrund rückt. Insgesamt bleibt bei mir ein Gefühl von Disbalance zurück, obwohl die Charaktere mir zunehmend ans Herz gewachsen sind. Wahrscheinlich hätte das Ganze um 100 Seiten gekürzt werden müssen und möglicherweise wäre dann ein überragendes Werk entstanden. So bleiben aber letztlich nur Facetten, die strahlen und nachwirken.