Väter, Mütter und Dämonen - Roman Ehrlich beschreibt eine Jugend in den Neunzigern
»Videotime«, so hieß die Videothek, in der Roman Ehrlichs Erzähler mit seinem Vater zahllose Filme auslieh, um sie zu Hause auf Leerkassetten zu überspielen. Es sind die neunziger Jahre in einer bayerischen Kleinstadt, deren scheinbar friedliche Ordnung vom Unheimlichen der Filme in ein anderes, fremdartiges Licht getaucht wird. Was zum Beispiel war damals mit den Vätern und Müttern los, die in Justizvollzugsanstalten oder Autohäusern arbeiteten und in ihrer Freizeit die eigenen Kinder auf dem Tennisplatz mit harten Drills trainierten oder hoffnungslos dem Zucker verfallen waren? Welche Rolle spielte man selbst dabei, wenn man jung war und die eigene Welt nur so zu wimmeln schien von Außerirdischen und Besessenen? »Videotime« ist eine Geschichte in auffallend schöner Sprache über die Gesichter und Leerstellen, die sich hinter unseren Masken und Selbstbildern verbergen. Ein beeindruckender, mit großer Souveränität erzählter Roman, der die Frage aufwirft, in welcher Zeit und Welt wir eigentlich leben - und in welcher Haut.
Besprechung vom 30.11.2024
Schau hin, Großer!
Multimediales Erzählen: Roman Ehrlich verquickt im Roman "Videotime" subtil die Erzählmuster von Film und Literatur.
Romane, die einen einzigen Tag im Leben ihrer Protagonisten beschreiben, sind in der modernen Literatur reichlich zu finden. Der berühmteste unter ihnen ist "Ulysses", aber "Mrs. Dalloway" von Virginia Woolf steht dem Buch von James Joyce an Kunstfertigkeit nicht nach, und "Zettel's Traum" von Arno Schmidt hat das Verhältnis von Umfang zu Zeitablauf auf die Spitze getrieben. Mit dieser Trias kann sich Roman Ehrlichs neuer Roman nicht messen. Aber er gehört zum Klügsten, was die deutschsprachige Literatur in diesem Jahr hervorgebracht hat.
Auch "Videotime" erzählt von einem einzigen Tag, streng genommen gar nur einem Vormittag eines heißen Sommers unserer Gegenwart. Schauplatz ist eine nicht genannte Ortschaft in Bayern, doch einige Verweise auf deren Umgebung und Stadtbild lassen Neuburg an der Donau vermuten, die Heimatstadt des 1983 geborenen Autors. Ein ebenfalls namenloser Mann im ungefähren Alter Ehrlichs (zu erschließen über das zentrale Erzähl-Movens des Romans: die vom Protagonisten in dessen Jugend angeschauten Spielfilmvideos) ist zurückgekehrt, um seinen nach der Scheidung der Eltern mittlerweile allein lebenden Vater zu besuchen. Im Treppenhaus macht der Ich-Erzähler kehrt und begibt sich stattdessen auf eine voyage sentimentale durch seine Kindheitswelt - beginnend auf dem nahe gelegenen Parkplatz einer mittlerweile längst geschlossenen Videothek, in der in den Neunzigern die Filme entliehen wurden, die sich der Ich-Erzähler dann mit seinem älteren Bruder ansah. Außerdem zog der Vater Raubkopien von Leihkassetten aus der Erwachsenenabteilung, und dieser Bestand war dann ganz besonders der Gegenstand jugendlichen Begehrens. Dadurch kamen den Brüdern Filme vor Augen, die keinesfalls für sie bestimmt waren. Auch den Erinnerungen daran gilt diese sentimentalische Reise. Ausgelöst werden sie jeweils durch den Anblick eines ehedem vertrauten Kindheitsorts.
Durchsetzt ist Ehrlichs Buch jeweils zu Beginn seiner 32 Kapitel mit Standbildern im Kinoleinwand-Querformat all jener Filme, die dem Ich-Erzähler in den Sinn kommen. Die Fotos vertreten etwaige Kapitelüberschriften - ein interessantes Konzept, das dem Ineinanderfließen von äußeren und inneren Eindrücken entspricht, das den Kern des Erzählten in "Videotime" ausmacht.
Als Sohn eines Justizvollzugsbeamten und einer Teilzeit-Modeverkäuferin ist der Protagonist aufgewachsen. Kleine Verhältnisse also, im Kontrast zum besten Freund des Erzählers, dem Sohn eines Autohausbesitzers. Harmonischer ging es im teuren Eigenheim von dessen Familie aber auch nicht zu, und die Interessen der Jungen trafen sich vor den Fernsehbildschirmen in beiden Haushalten beim unbeobachteten Konsum ihnen eigentlich verbotener Videos. Ein gegenseitiges Überbietungsbemühen an Schockmomenten in den jeweils ausgesuchten Filmen trieb die beiden Halbwüchsigen an, und das galt dann auch für einen weiteren Kindheitsfreund, der mit seiner Familie aus Mazedonien zugereist war. In der engen und auf den ersten Blick viel repressiveren Atmosphäre von dessen Hochhausunterkunft fand der Protagonist jedoch eine Wärme, an der es ihm daheim mangelte.
So zumindest die Erinnerung des durch die Hitze streunenden Erwachsenen, der uneingestanden auf der Flucht ist vor der Begegnung mit seinem vereinsamten Vater. Von dessen Domizil in einem Mehrfamilienhaus geht es zu der früheren Videothek und dann nacheinander zum Bungalow der Autohausbesitzerfamilie, der Hochhaussiedlung des anderen Jugendfreundes, einer Tennishalle, in der der viel ehrgeizigere und anfangs auch erfolgreichere Bruder bis zu einer karrierebeendenden Verletzung vom Vater trainiert wurde, einer nahe gelegenen Gaststätte italienischer Gastronomen, mit deren Tochter der Erzähler als Junge erste erotische Erfahrungen sammelte, einem ehemaligen Elektroladen sowie einer mittlerweile abgerissenen Turnhalle, in der früher den Jugendlichen von einem traumatisierten DDR-Flüchtling Boxen beigebracht wurde, bis der Weg wieder vor der nunmehr sich öffnenden Tür des Vater endet. Die vom Erzähler zuletzt beschriebenen Lichtwahrnehmungen in dessen Wohnung evozieren das Betreten eines Kinosaals. Der Film des eigenen Lebens läuft in Endlosschleife.
Wie auch die sich miteinander verwebenden Filmsequenzen, die den Erzähler nie mehr verlassen haben: aus "Total Recall", "Videodrome", "Crash", "Universal Soldier", "Possession", "The Devil in Miss Jones", "Natural Born Killers", aber auch aus "Falsches Spiel mit Roger Rabbit". Alles Hollywood, doch von unterschiedlichstem Anspruch und Genre - Action, Horror, Erotik, Komödie, wobei sich deren jeweilige Elemente in diesen Filmen mischten, und so ist es dann auch in der erzählten Erinnerung. Und je länger Ehrlichs Roman währt, desto länger werden die nacherzählten Handlungsverläufe der Filme, und desto klarer treten deren Parallelen zum eigenen Leben des Protagonisten zutage.
Dabei wendet Ehrlich eine literarische Jump-cut-Technik an. Die Ausführungen zu den Filmen und zum "echten" Leben seines Erzählers trennen harte Schnitte, eine Überführung der jeweiligen Erzählebenen ineinander findet nicht statt. Es verwickelt sich, könnte man in Erinnerung an eine videokassettentypische Problematik sagen, der Ehrlich einen schönen Abschnitt seines Romans widmet. Zugleich aber führt "Videotime" auch ein genuin literarisches Ausdrucksmittel vor: den Endlossatz, also eine schnittlose Beschreibung. In deren Beispielen im Roman können dann doch bisweilen Filme und Leben in eins fallen.
So im Falle eines längeren Gedankenspiels beim Betrachten des Standorts der früheren Turnhalle, die von dem DDR-Flüchtling und dessen Frau betrieben wurde: "Nimmt nicht eigentlich Lori, denke ich, und habe ich das denn nicht damals schon auf Gerris Sofa gedacht, beim Schauen in dieser Wohnung, das nur jetzt, wo ich vor dem Loch in der Häuserzeile stehe, hochgradig unwahrscheinlich erscheint, wie die ganze kurzlebige Nachmittagsbetreuung, die diffuse, neblig verqualmte Luft, Der Sorbische Schmiedehammer, die Schläge von Benny Fleißer, die anderen jungen Jungs und die uralten, stinkenden Handschuhe, geleitet vom Glauben an die unverbrüchliche liebevolle Verbindung auf ihrem gefahrvollen Weg hinein in die wahnhaften, psychotischen Tiefen der Seele ihres Mannes, unendlich geduldig und ewig hoffend, ihn davon überzeugen zu können, dass sie seine Frau ist und er durch seine Liebe zu ihr herausfinden kann aus dem Albtraum, in den er sich aus freien Stücken begeben hat, dieselbe Rolle ein wie die Robin Williams-Figur in Hinter dem Horizont, als sie zu ihrer Frau in die Hölle der Selbstmörderinnen hinabsteigt?" In den Rahmengedanken schmiegt sich ein Gespinst weiterer Erinnerungen ein.
Roman Ehrlichs "Videotime" ist Zeitbild und Zeitmaschine zugleich, ein seltenes Beispiel von Prosa, die Anschaulichkeit mit Verrätselung zu kombinieren weiß, ohne dass es Zweifel an der Zugänglichkeit gäbe. Stimmungen einer Kleinstadt werden ebenso deutlich wie die der Neunzigerjahre. Und die Valeurs eines Kinos, das weitaus spielerischer mit einer Ästhetik des Schreckens und der Gewalt umging, als es das gegenwärtige Hollywood mit seinen ermüdenden Variationen immergleicher Erfolgsrezepte tut. Ehrlichs Roman betreibt aber zugleich auch ein multimediales Erzählen, das einiges von dem einlöst, was man sich von Netzliteratur ursprünglich erhofft hatte. Er tut es mit den simplen Mitteln des Mediums Buch, mit Bildern und Worten, die unsere Phantasie als Kollaborateurin brauchen. Wie gute Filme auch. ANDREAS PLATTHAUS
Roman Ehrlich: "Videotime". Roman.
Verlag S. Fischer,
Frankfurt am Main 2024.
368 S., 33 Abb.,
geb.
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