Es gibt Bücher, die sich lesen, als würde man sie träumen. Sidonie-Gabrielle Colettes Roman Chéri, erstmals 1920 in Frankreich erschienen, ist ein solches Werk ein Meisterstück subtiler Erotik, gesellschaftlicher Provokation und literarischer Eleganz. In der neuen, glänzenden Ausgabe des Manesse Verlags (übersetzt von Renate Haen und Patricia Klobusiczky, ergänzt um ein erhellendes Nachwort von Dana Grigorcea) wird dieser Klassiker nun einer neuen Lesergeneration zugänglich gemacht und das mit bemerkenswerter Sorgfalt.
Die Geschichte ist schnell erzählt: Die fast fünfzigjährige Léa de Lonval, eine ehemalige Kurtisane, lebt in einer dekadenten Welt der Pariser Belle Époque. Seit Jahren verbindet sie eine leidenschaftliche Beziehung mit dem 24-jährigen Fred Peloux, genannt Chéri. Chéri, ein ästhetischer Müßiggänger und Sohn aus gutem Hause, lässt sich durchs Leben treiben charmant, verwöhnt, launisch. Als er die junge Edmée heiratet, glauben beide, die Trennung würde sie befreien. Doch genau das Gegenteil tritt ein: Die Zäsur wirft sie aus der Bahn und legt frei, wie tief diese Liaison sans avenir tatsächlich war.
Was Chéri so besonders macht, ist nicht nur das Thema eine Beziehung zwischen einer älteren Frau und einem wesentlich jüngeren Mann, die zur damaligen Zeit als Skandal galt , sondern die Art, wie Colette diese Geschichte erzählt. Mit einer Sprache, die zugleich sinnlich und messerscharf ist, entwirft sie ein Kammerspiel der Gefühle, das weit über das Erotische hinausgeht. Ihre Figuren sind keine bloßen Typen, sondern komplexe Seelen widersprüchlich, verletzlich, stolz. Léa ist keine femme fatale, sondern eine Frau, die die Liebe ebenso genießt wie fürchtet, weil sie weiß, dass ihr Verfallsdatum gesellschaftlich längst überschritten ist.
In der exzellenten Übersetzung von Haen und Klobusiczky bleibt Colettes Stil lebendig und nuancenreich. Es gelingt ihnen, den feinen Humor, die melancholische Grundstimmung und das bittersüße Flirren dieser Amour fou zu bewahren, ohne den Text ins Gestelzte kippen zu lassen. Ein Balanceakt, der bewundernswert gelingt.
Das Nachwort von Dana Grigorcea liefert den notwendigen historischen Kontext nicht nur zur Entstehungsgeschichte des Romans, sondern auch zur Stellung der Autorin in der französischen Literatur und zur Rezeption weiblicher Sexualität im frühen 20. Jahrhundert. Grigorcea öffnet den Blick für die literarische Radikalität Colettes, die mit Chéri nicht nur ein Tabu brach, sondern eine ganze moralische Ordnung infrage stellte.
Colettes Roman steht in einer langen Tradition französischer Literatur, die sich mit Ehebruch, Verlangen und Rollentausch beschäftigt von Madame de Lafayette über Laclos bis zu Flaubert. Doch Chéri hebt sich durch seinen Ton, seine weibliche Perspektive und seine melancholische Schönheit ab. Léa liebt und sie überlebt. Sie verzweifelt nicht, sie stilisiert nicht. Sie erkennt, dass Liebe nicht ewig dauert, aber ewig nachhallt. Dass Begehren nicht immer zur Erfüllung führt, aber zur Selbsterkenntnis. Dass Abschiede mehr sagen als Worte.
Ein großartiger Roman, schmal im Umfang, aber tief in der Wirkung. Ein Plädoyer für weibliches Begehren, für das Recht auf sinnliche Erfahrung jenseits der Konvention. Und ein literarisches Fest der Sprache, das in dieser Neuübersetzung neu leuchtet.