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Besprechung vom 21.03.2025
Die Ambivalenz des Religiösen
Frömmigkeitsstile und Symbolwelten, über die man im alten Europa immer noch gerne staunt: Stefanie Coché erhellt mit ihren Porträts religiöser Führungsfiguren auf gründliche Weise die politische Rolle der Kirchen in den USA.
Religiöse Führungspersönlichkeiten", die die Religionsgeschichte der USA seit 1800 tiefgreifend prägten, nimmt Stefanie Coché in ihrem Buch mit "neueren biographiegeschichtlichen" Methoden in den Blick. Die Schülerin des Gießener Ideenhistorikers und Kapitalismusforschers Friedrich Lenger hat eine gut begründete Auswahl getroffen. Weiße religiöse Predigerinnen und Prediger werden ebenso behandelt wie einflussreiche Glaubenszeugen aus den Black Churches. Da seit Beginn des neunzehnten Jahrhunderts immer drei Viertel der Christen in den USA protestantischen Denominationen angehörten, stellt sie zehn protestantische Führungspersönlichkeiten vor. Vier Porträts gelten erfolgreich predigenden Katholiken und Katholikinnen. Neben zehn Männern werden zwei afroamerikanische Frauen, eine mexikanischstämmige Predigerin und eine weiße Glaubensbotin berücksichtigt.
So werden ganz unterschiedliche Frömmigkeitsstile und religiöse Symbolwelten sichtbar. Indem Coché fragt, wie ihre Leitgestalten das Vertrauen ihrer Anhänger gewannen, kann sie Muster der Konstruktion religiöser Autoritätsbildung nachzeichnen. Ihre Führungspersönlichkeiten dienen als "Prismen", um die oft hohe Entwicklungsdynamik der diversen nordamerikanischen Christentümer transparent zu machen. Zugleich kann sie plausible Erklärungen dafür liefern, dass einige Glaubensanbieter zu bestimmten Zeiten deutlich erfolgreicher als ihre Konkurrenten waren. Entscheidend sei die Fähigkeit einer Führungspersönlichkeit, mit ihrer Botschaft auf neue Herausforderungen lernend so zu reagieren, dass der überkommene Transzendenzbezug gewahrt wurde. Man erfand sich neu und konnte zugleich doch auf Kontinuität bestehen. Deutlich stärker als andere Historiker nimmt Coché die Inhalte des jeweils Verkündeten ernst. Darin liegt ein großer Vorzug ihrer Studie.
Coché setzt mit dem presbyterianischen Erweckungsprediger Charles G. Finney ein, der in Ohio die erste evangelikale Hochschule der USA, das Oberlin Collegiate Institute, gründete. Nach einem Bekehrungserlebnis 1824 verkündete Finney einen neuen religiösen Individualismus: In Kritik der überkommenen calvinistischen Lehre von der doppelten Prädestination, der zufolge der einzelne Mensch von Gott entweder zum Heil oder aber zur ewigen Verdammnis vorherbestimmt sei, erkannte er allen Gläubigen die Chance zu, sich die eigene Erlösung durch eine Gott wohlgefällige Lebensführung zu erarbeiten. Heiligung erlebe der wahrhaft Fromme nicht erst im Jenseits, sondern bereits hier und jetzt. Mit dieser Lehre von der präsentischen Sanktifikation wurde der einflussreichste Prediger der Zweiten großen Erweckungsbewegung in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zu einem wichtigen Vordenker der späteren Holinessbewegung, die Heilsgewinn von der Bedingung echter Umkehr und sündenfreien Lebenswandels abhängig machte. Gute Taten der Frommen brächten das Reich Gottes näher. Trotz des Vorrangs genuin religiöser Fragen klagte Finney in seinen Predigten deshalb auch Sozialreform ein. An seiner Hochschule, dem heutigen Oberlin College, konnten früh schon Frauen und Afroamerikaner studieren. Dass der evangelikale Protestantismus in den USA als solcher politisch konservativ sei, ist nur ein europäisches Vorurteil. Finneys religiöse Verzauberung des autonomen Individuums enthielt ein Gleichheitsversprechen. Damit wirkte er demokratisierend.
Derzeit gehören vierzig Prozent der amerikanischen Bürger einer protestantischen Denomination an. Katholiken machen neunzehn Prozent der Bevölkerung aus. Der hohen innerprotestantischen Pluralität entspricht eine ganz eigene katholisch religiöse Vielfalt, die schon im neunzehnten Jahrhundert entstand. In dichten, bisweilen redundanten Beschreibungen führt Coché in höchst unterschiedliche katholische Glaubensmilieus. Der Religionsintellektuelle Orestes Augustis Brownsen, ein Mehrfachkonvertit, der erst Kongregationalist, dann Methodist, Presbyterianer, Universalist und seit 1844 schließlich römischer Katholik war, wollte eine autoritäre, romorientierte Glaubenspraxis protestantisieren, indem er Freiheit betonte und diese mit neothomistischem Ordnungsdenken zu vermitteln suchte.
Der aus dem Habsburgischen Reich stammende, sich primär an deutschsprachige Katholiken wendende Jesuit Francis Xavier Weninger machte sich Verkündigungsstrategien protestantischer Evangelikaler zu eigen. Mit einem "pneumatologischen Trick" stärkte das katholische Pendant zu Finney die Wahlfreiheit des frommen Einzelnen: Es sei der Heilige Geist selbst, der dem Gläubigen nahebringe, was und wie er zu glauben habe. Ganz anders der Katholizismus der mexikanisch geprägten Estela Ruiz, die mit ihren 1988 einsetzenden Visionen von "Our Lady of the Americas" vor allem unter eingewanderten Latinos große Erfolge feierte. Als Marienvisionärin bekämpfte sie den modernen Feminismus.
In den USA entstanden seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts eine Reihe von grundlegend neuen protestantischen Glaubensgemeinschaften, die vom Charisma ihrer Gründer abhingen. Besonders eindrucksvoll zeigt Coché dies mit Blick auf Charles Harrison Mason auf. Der aus einer baptistischen Familie stammende Pastor wurde 1896 aus seiner Gemeinde verstoßen, weil er sich zur Holinessbewegung bekannte. Gemeinsam mit Charles Price Jones gründete er daraufhin die "Church of God". Als er 1906 am Azusa Street Revival, der Urszene der Pfingstkirchen und pentekostalen Gemeinschaften, in Los Angeles teilnahm, begann er erstmals "in Zungen zu sprechen". Wegen dieser Glossolalie schloss ihn seine eigene Kirche aus, woraufhin er 1907 die "Church of God in Christ" (CGC), die größte afroamerikanische Kirche gründete. Sie betont "Christian healing", ohne akademische Schulmedizin abzulehnen. Die CGC ist bis heute die am schnellsten wachsende Glaubensgemeinschaft der USA.
Nach einem schweren Unfall war Mary Baker Eddy davon überzeugt, allein durch ihr Bittgebet wieder genesen zu sein. In "Science and Health", veröffentlicht 1875, entwarf sie die glaubenspolitischen Fundamente einer neuen antiwissenschaftlichen Frömmigkeit, die die moderne Schulmedizin aggressiv ablehnte: "Christian Science". Diese von ihr äußerst autoritär regierte "Kirche" war bis in die 1930er-Jahre hinein vor allem bei Frauen aus der weißen Mittelschicht erfolgreich, hat aber seitdem auf dem nordamerikanischen Glaubensmarkt zunehmend Marktanteile verloren. Eddy, die sich in absurder Übertreibung ihrer Selbstlegitimation gern als ein weiblicher Heiland inszenierte, stand früh schon im Verdacht, mit ihrem Gesundbeten nur Geld verdienen zu wollen.
Den in New York am Union Theological Seminary lehrenden deutschstämmigen Ethiker Reinhold Niebuhr stellt Coché als einen neoorthodoxen Grenzgänger zwischen Liberalen und Konservativen vor, der zwar politisch vielfältig aktiv war, zunächst auf Seite der Sozialisten, aber religiöse Autorität primär durch seinen harten Realismus in der Deutung des Christlichen unter den Bedingungen einer industriellen Klassengesellschaft gewann. Der Radioprediger und Massenevangelist Billy Graham machte den Amerikanern auf seinen "Crusades" im Kalten Krieg erfolgreich ein religiöses Angebot, das in seiner Anwendungsbezogenheit "revolutionär einfach" war: In jeder noch so alltäglichen Situation gebe es ein richtiges christliches Verhalten. Ihm gelang es, die Evangelikalen an die inzwischen erodierenden protestantischen "Mainline Churches" heranzuführen.
Die Fundamentalpolitisierung des evangelikalen Protestantismus datiert Coché mit Martin Riesebrodt und Michael Hochgeschwender auf die 1980er-Jahre. Jerry Falwell Senior, ein harter, offen rassistischer Gegner der Bürgerrechtsbewegung, konnte mit seinen neofundamentalistischen Glaubensbotschaften ein religiöses Imperium errichten, in dem er zugleich als politischer Führer agierte. Die von ihm 1980 gegründete "Moral Majority", eine transkonfessionelle politisch-religiöse Lobbyorganisation, trug entscheidend zum Wahlsieg Ronald Reagans bei und fördert bis heute antiliberale Kampfbündnisse zwischen Organisationen der Republikaner und religiös fundamentalistischen Gruppen. Von ihm sind zahlreiche antisemitische Äußerungen überliefert.
Coché überzeugt mit plausiblen Beobachtungen: Kamen protestantische Erweckungsprediger zunächst aus einfachen Verhältnissen, waren sie im zwanzigsten Jahrhundert eher Söhne wohlhabender Unternehmer, sodass sie an teuren evangelikalen Colleges Bildungspatente erwerben konnten; das förderte eine Professionalisierung ihrer Glaubenskommunikation: Die am "Fuller Theological Seminary" seit 1965 institutionalisierten Studiengänge in Psychologie wurden 1974 von der säkularen Wissenschaftsorganisation APA akkreditiert. Weiterhin: Religiöse Führungspersönlichkeiten, die aus einer marginalisierten Gruppe stammten, etwa Frauen und "Schwarze", bedurften einer besonders starken göttlichen Legitimation und mussten deshalb die Macht des Jenseits im Diesseits gezielt dramatisieren. Sodann: Das "Erfolgsgeheimnis konservativer christlicher Religion" liege in einem "Mehr an Religiosität" gegenüber den liberalen Marktteilnehmern, was aber keineswegs immer rigiden Moralzwang bedeute. Zumeist seien die Konservativen medial moderner als die liberalere Konkurrenz. In der permanenten Ausdifferenzierung der religiösen Landschaft böten sie klare, eindeutige Botschaften, die sie teils an privilegierte, teils an marginalisierte Adressaten richteten. Oft sei hier der Kunde König. So ließ sich sowohl die Ausweitung von Freiheit und demokratischer Partizipation auf Frauen und Afroamerikaner religiös rechtfertigen als auch die Beschränkung solcher Bürgerrechte.
Die Stärke der Religion in der amerikanischen Gesellschaft wird oft mit einem Marktmodell erklärt: Mehr Anbieter brächten mehr Geschäft, und die permanente Konkurrenz zwinge die diversen Sinnunternehmer dazu, ihre Angebote fortwährend neu am Kunden auszurichten. Coché empfiehlt hingegen, stärker die Gemeinsamkeiten ethnisch unterschiedlicher evangelikaler Akteure zu erkunden und so die einseitige Fixierung auf die weißen, exkludierenden Evangelikalismen zu überwinden.
Wer die tiefe politische und soziokulturelle Spaltung der amerikanischen Gegenwartsgesellschaft verstehen will, braucht viel religionsanalytische Kompetenz. Denn man muss elementare Paradoxa deuten können, die zunächst nur als Gegensätze von Unvereinbarem erscheinen. Donald Trump nimmt kraft seines Amtes an Gottesdiensten teil, beleidigt aggressiv ihn kritisierende Geistliche und nutzt christlich-religiöse Sprache für vordergründige politische wie ökonomische Interessen. Ob er ein frommer Christ sein will, mag er mit seinem Gott ausmachen. Dass er sich mit seinen Pöbeleien und seinem Macho-Gebaren die Bergpredigt wohl eher nicht zur Richtschnur seiner Lebensführung gemacht hat, ist evident. Dennoch wird er von all jenen Menschen gewählt, die in den Glaubensgemeinschaften der "New Christian Right" immer neu für die "Nation under God" und eine gute christliche Ordnung des Gemeinwesens beten. In ihrem Alltag versuchen sie oft, durch ernsthafte moralische Gläubigkeit ihre Vorstellungen guten Lebens zu realisieren.
Schon immer war konservatives religiöses Bewusstsein durch Antiintellektualismus und Wissenschaftsfeindschaft geprägt. Kognitive Dissonanz wurde verhindert, indem man das Glaubensandere von sich abstieß. In Sachen Moral ist es bei den Evangelikalen ganz anders. Man kann die Geschichten politisierter evangelikaler Religion in den USA auch als Geschichten von Machtmissbrauch, finanzieller Korruption, Nepotismus und nicht wenigen Sexskandalen schreiben. Die Doppelmoral der Glaubensführer führte nur selten dazu, dass sich die Frommen abwendeten. Denn weil man selbst nicht so vollkommen ist, wie man sein zu sollen weiß, gewährt man ihnen um der eigenen Entschuldung willen Gnadenkredit. Radikal konservative Christlichkeit in den USA - das ist auch ein Außenminister, der sich in narzisstischer Peinlichkeit am Aschermittwoch mit Aschekreuz zur Schau stellt, oder ein Vizepräsident, der mit Augustins ordo amoris eine neonationalistische Interessenpolitik legitimieren will.
Wer solche Phänomene politisierter Religion verstehen will, greife zu Cochés Buch. Die Kontinuität in der modernen nordamerikanischen Christentumsgeschichte liegt auch darin, dass religiöser Glaube fortwährend vieldeutig und widersprüchlich war. Er konnte die amerikanische Demokratie fördern, und genauso gut vermochte er ihre normativen Grundlagen, etwa das Versprechen der gleichen Freiheit aller Bürgerinnen und Bürger, zu unterminieren. Diese bleibende Ambivalenz des Religiösen zu zeigen, ist das große Verdienst von Cochés gelehrter Studie. FRIEDRICH WILHELM GRAF
Stefanie Coché: "Religiöse Erweckung und irdische Macht". Religion und Demokratie in den USA.
Hamburger Edition, Hamburg 2025.
559 S., Abb., geb.
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