Besprechung vom 20.08.2023
Schattenboxen in drei Kapiteln
Die Philosophin Susan Neiman will erklären, warum links nicht gleich woke ist. Aber sie erklärt nicht mal, was woke ist.
VonNovina Göhlsdorf
Die US-amerikanische, in Deutschland lebende Philosophin Susan Neiman führt in ihrer Streitschrift "Links woke" eine Kontroverse gegen eine Bewegung, die sich als solche nicht ausfindig machen lässt, deren Angehörige sie nicht nennt und weder direkt noch indirekt zu Wort kommen lässt. Sie erhebt Einspruch gegen angebliche Annahmen und Ziele dieser Bewegung, für die ihre 137 Fußnoten keinen einzigen Beleg enthalten. Und sie greift die Theorien an, die diese Bewegung vermeintlich geprägt haben. Susan Neimans Buch ist ein Schattenboxkampf in drei Kapiteln.
Der plakative Titel legt es nahe: Neiman grenzt die Positionen und Anliegen derer, die sie als woke Linke versteht oder denen sie vielmehr unterstellt, sich als woke Linke zu verstehen, ab von denen, die sie für (wahrhaft) links erklärt. Laut einer sprachwissenschaftlichen Studie aus diesem Jahr ist "woke" in Deutschland mittlerweile eine "Chiffre" ohne eindeutigen Bedeutungskern. Daher kommen Neugier und Erleichterung auf, wenn Neiman zu Anfang ihres Buchs eine Wortbestimmung ankündigt. Nur bleibt die leider vage und widersprüchlich. "Woke bezeichnet keine eigentliche Bewegung", schreibt sie - und dann unvermittelt und durchweg von der "Woke-Bewegung". Woke sei "vom Lobes- zum Schmähwort" geworden, heißt es richtig. In der Tat wandten in der Folge von Black Lives Matter manche den Ausdruck "woke", positiv besetzt, auf sich oder ihre Haltung an. Doch Karriere machte er erst, als Leute aus dem rechten und linken Spektrum diejenigen mit ihm beleidigten, die sie für zu links beziehungsweise nicht ausreichend links hielten. Es ist also längst keine affirmative und kollektive Selbstbezeichnung mehr. Doch als genau das verhandelt es Neiman nach kurzer Erwähnung der "Schmähwort"-Tradition - und setzt diese munter fort.
Neimans Bild der Woke-Bewegung ergibt sich aus verstreuten Urteilen und Polemiken: Woke reduziere Menschen "auf das Ausgegrenztsein", sei fixiert auf "Rechte ausgewählter Minderheiten", damit auf "Machtungleichheiten" und verliere die Gerechtigkeit aus dem Blick. Für Neiman ist Wokeness gebunden an Identitätspolitik; die nennt sie aber bevorzugt "Stammesdenken", das nur aus sei auf den Machtgewinn des eigenen "Stammes". Der werde allein durch die Kategorien gender und race bestimmt, und da Neiman die anscheinend als biologische deutet, hält sie "den" Woken Essenzialismus vor. Mehr oder minder abfällig labelt sie vertraute Empörungstrigger als "woke" - den Hang, den Opferstatus zur Qualifikation zu machen, Diskriminierungserfahrungen "zu einem Wald aus Traumata zu verdichten", die "Tendenz, alles und jeden zu dekolonialisieren" und Denkmäler umzustürzen, Dauerdiskussionen über Pronomen und das in Deutschland "amtlich abgesegnete" Verdikt, dass, wer nicht gendersensibel spricht, ein "unverbesserlicher Sexist" sei. Dass sie, abgesehen von diesem letzten Aspekt, deutsche und amerikanische Debatten durcheinanderwirft, macht ihre Zuschreibungen nicht präziser.
Das Fehlen von Nachweisen für ihre Behauptungen lässt diese auf perfide Weise als unangreifbare Schilderungen einer objektiven Realität erscheinen. Es hemmt Diskussionen. Denn wo soll man anfangen, wenn Neiman im Dunkeln lässt, wen oder was sie meint und woher sie das weiß? Damit, dass die ursprüngliche Idee der Identitätspolitik, wie sie das Combahee River Collective, eine Gruppe Schwarzer, lesbischer Feministinnen, in den Siebzigern formuliert hat, und das Engagement vieler derjenigen, die sich heute identitätspolitischen Anliegen verschreiben, nichts mit bloß partikularen Interessen und einer Abkehr von universellen Rechten zu tun hat? Dass, ganz im Gegenteil, diese Rechte erreicht werden sollen, indem man bewusst macht, wie sie Menschen mit bestimmten Identitäten besonders verwehrt bleiben? Dass Identitäten hier als das - bewegliche - Ergebnis sozialer Fremdzuschreibungen verstanden werden und es dabei nicht nur um die von Geschlecht und race geht, sondern etwa auch um die Klasse (ein Begriff, der in Neimans Buch gar nicht vorkommt)? Oder damit, dass deutsche Behörden niemanden, der das generische Maskulinum gebraucht, für sexistisch erklären?
Neiman ist sich sicher: All die Ideen, auf die wahre Linke bauten, lehnten jene, die woke seien, ab: Universalismus, Gerechtigkeit und Fortschritt. Woke sei deshalb nicht gleich links, weil es sich philosophisch anders begründe, auf Irrtümern, die Neiman vor allem auf den Einfluss von Carl Schmitt und Michel Foucault zurückführt. In einem kruden Kurzschluss behauptet sie, dass etwa Schmitts und Foucaults Machttheorien aus den Zwanziger-, Dreißiger-, Vierzigerjahren beziehungsweise Siebziger- und Achtzigerjahren recht ungefiltert nicht nur aktuelle Uniseminare, sondern den politischen Diskurs schlechthin indoktrinieren. Man atmete deren giftige Theorien gewissermaßen mit der Luft ein.
Es liegt nahe, dass Neiman die Vorstellung, Foucault sei "zum Paten der woken Linken geworden", von Omri Boehm übernimmt, der in "Radikaler Universalismus" (2022) raunt, dass postmoderne Ansätze "aus Paris" und mit ihnen eben auch die von Schmitt und Martin Heidegger im Rahmen von Postkolonialen Studien oder Critical Race Studies wieder auflebten. Dass die Kritik an den Theorien und der Person Foucaults gerade in den letzten Jahren enorm war, dass seine Ansätze, sofern sie akademisch aufgegriffen worden sind, in den vergangenen vier Jahrzehnten deutlich weiterentwickelt wurden und sich etwa die Critical Race Studies viel stärker auf Autoren wie Saidiya Hartman oder Frantz Fanon beziehen, scheint an Boehm und Neiman vorbeigegangen zu sein.
Deshalb unternimmt Neiman in ihrem Buch den ausschweifenden Versuch, insbesondere an Foucaults Schrift "Überwachen und Strafen" von 1975 und anhand von fast ebenso lang zurückliegenden Verwerfungen nachzuweisen, dass Foucault kolportiere, was "die" Wokeness philosophisch fundiere: den Glauben und das Streben nach Partikularismus und Machtinteressen sowie die Verneinung des Fortschritts. Und eine für Neiman unverzeihliche moralische Gleichgültigkeit.
Umso normativer ist Neimans Stimme in "Links woke", um nicht zu sagen: apodiktischer. Sie tritt auf als Bescheid wissende Autorität. Ihr selbstgewiss-polternder Ton wird dann besonders unangenehm, wenn das, was sie äußert, offenkundig falsch ist. Um hervorzuheben, dass viele in den USA nichts von deutschen Sozialleistungen wissen, schreibt sie zum Beispiel: "Den Amerikaner, der weiß, dass in Deutschland Eltern nach der Geburt ihres Kindes Anrecht auf sechzehn Monate bezahlte Elternzeit haben, muss ich erst noch finden." Diese Suche könnte dauern, da diese Elternzeit üblicherweise 14 Monate umfasst. Neiman neigt zu Totalaussagen. Zugleich beruhen all ihre Ausführungen auf Insinuationen und Suggestionen, auf Anspielungen und Verunklarungen, vorgebracht im Stil von Klartext-Prosa und im Namen eines ostentativen "wir", das aber nichts Inklusives hat.
Leider geht diese Vollmundigkeit mit einem frappierenden Kohärenzmangel einher, falschen grammatischen Bezügen, ständigen Sprüngen, argumentativen Lücken und einer dauernden Drift, von der die Trennung sämtlicher Ebenen aufgehoben wird. Das hat manchmal bloß komische Effekte, führt aber auch oft zu bedenklichen Entdifferenzierungen, wenn sich etwa auf einer kurzen Strecke Neimans Ressentiment über Blaubeerboxen mit der Aufschrift "The Berry that cares" und den Dixiklo-Namen "Wölkchen" verschiebt zu dem über "weichgezeichnete" Sprache, die Sklaven zu versklavten Personen mache.
Weniger schludrig als programmatisch scheint es hingegen zu sein, dass Neiman, die an einer Stelle vor dem "Missbrauch durch Sprache" warnt, schreibt: "Das Gegenstück zum Universalismus wird oft als identitäre Bewegung bezeichnet" - und damit die linke Identitätspolitik meint. Es entspringt offenbar ihrem wenig verhohlenen frivolen Gefallen daran, vermeintlich woke-linke Haltungen als quasi rechte auszuweisen. Fahrlässig wird es auch da, wo Auslassungen verzerrend wirken, etwa wenn die Aussage einer der Schöpferinnen des Begriffs "Identitätspolitik" so eingebettet wird, dass sie so klingt, als beschwere sie sich über die Verdrehung des Begriffs durch "die" Woken, obwohl das Originalzitat dies unbestimmt lässt.
In Gänze tritt die Absurdität des Buchs vielleicht an seinem bitteren Ende hervor, an dem sie sich für eine Allianz der Linken (der woken und der wahren) ausspricht angesichts der Bedrohung von rechts. Dazu bringt sie eine historische Analogie: Eine linke "Volksfront" hätte nach der Machtübergabe an die Nazis den Zweiten Weltkrieg verhindern können. Doch man habe "das Trennende" als zu groß empfunden. Dabei hätte es "neben den Unterschieden zwischen universalen linken Bewegungen und dem Stammesdenken des Faschismus . . . verblassen müssen, auch wenn die stalinistische kommunistische Partei unfähig war, das zu erkennen. Einen ähnlichen Fehler dürfen wir uns heute nicht leisten."
Um das kurz ins Heute zu übersetzen: Die woken Linken (verglichen mit den Stalinisten) mögen faschismusaffin sein in ihrem Stammesdenken, sollten aber begreifen, dass sie trotz allem noch mehr gemein haben mit den Linken, die sich, wie Neiman, dem Universalismus verschrieben hätten. Freundlicher lässt sich eine Einladung zur Kooperation kaum formulieren.
Hinter Neimans Streitschrift scheint leider weniger der Wunsch nach einer ergiebigen Auseinandersetzung und Annäherung unter Linken zu stehen, sondern eine sehr zeitgemäße Streitlust und das Bedürfnis nach Selbstvergewisserung eines Kreises von ähnlich Denkenden auf ähnlichem Erregungslevel, die sich ohnehin schon einig sind und die sich kaum aufs Außen, dafür umso mehr aufeinander beziehen. Das macht Susan Neimans Buch als Gegenwartsbeschreibung untauglich, aber unbedingt zu einem Symptom dieser Gegenwart. Auch weil es eine aktuell beliebte und erfolgreiche Art der Rede vorführt: eine, die erzeugt, was sie verdammt.
Susan Neiman: "Links ist nicht woke". Aus dem Englischen von Christiana Goldmann. Hanser Berlin, 176 Seiten
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