100 Jahre Bauhaus Dessau: "Es wäre nicht abwegig, wenn jemand sich entschlösse, etwas über die Rolle der Meisterfrauen zu schreiben, der Frauen der Bauhaus-Meister nämlich, die keinen offiziellen Status hatten und doch maßgeblich an der Geschichte und Nachgeschichte des Bauhauses beteiligt waren." (Lucia Moholy-Nagy)
Unda Hörner schreibt nicht nur über die Meisterfrauen, sondern über die Bewohnerinnen (und Bewohner) der Meisterhäuser in Dessau. Die Bewohner sind heute weltberühmt, die Bewohnerinnen sehr viel weniger. Die Autorin stellt sie in den Vordergrund und beschreibt ihre Tätigkeiten und Enttäuschungen.
Ein sehr unterhaltsamer und informativer Überblick über das Leben am Bauhaus Dessau - aus weiblicher Perspektive. Vielleicht ein Anlass, wieder mal nach Dessau zu fahren!
Nachdem das Bauhaus von den Nazis gezwungen worden war, Weimar zu verlassen, ließ man sich in Dessau nieder. Zusätzlich zu dem neuen Bauhaus-Gebäude ließ Walter Gropius drei Doppelhäuser und ein Direktorenhaus für die Meisterfamilien bauen. Darin wohnten ab 1926 zeitweise Walter Gropius und seine Frau Ise, Oskar und Tut Schlemmer, Paul Klee und Lily Klee, Wassili und Nina Kandinsky, László und Lucia Moholy-Nagy, Lyonel und Julia Feininger, Hinnerk Scheper und Lou Scheper-Berkenkamp, Alfred und Gertrud Arndt, die Textildesignerinnen Gunta Stölzl und Anni Albers, Georg und El Muche, Mies van der Rohe und Lilly Reich, u. a.
Der Anspruch der Künstlerinnen und Künstler war hoch. Alle Künste sollten Teil eines Gesamtkunstwerks sein, welches das Leben der Menschen in vielerlei Hinsicht verbessern sollte. Die Wirklichkeit wurde dem Anspruch oft nicht gerecht. Obwohl theoretisch darauf Wert gelegt wurde, Männer und Frauen gleich zu behandeln, waren die Herren Künstler Kinder ihrer Zeit. Frauen waren bald nicht mehr gern gesehen als Architektinnen schon gar nicht. Man schob sie auch gegen ihren Willen ab in die Weberei. Die Frauen der Meister agierten ganz unterschiedlich. Nina Kandinsky ordnete sich ihrem Mann vollkommen unter. Ise Gropius engagierte sich in der Organisation des Bauhauses, wurde "Frau Bauhaus", von ihrem Mann als süßer Helfer tituliert! Lilly Reich konnte sich in dieser toxischen Männerwelt als eine von wenigen als Künstlerin und Innenarchitektin durchsetzen, freilich nicht ohne große Widerstände.
"Die Bauhaus-Frauen hatten den Gemeinschaftsgedanken möglicherweise stärker verinnerlicht als die Männer, bei denen nicht selten die Eitelkeit das letzte Wort hatte. [...] Sie dachten wie Julia Feininger oder 'El Muche' ans Bauhaus als Kollektiv und zeigten sich solidarisch mit ihren Männern ..."
Die Solidarität wurde oft nicht belohnt. Lucia Moholy-Nagy beispielsweise, deren Fotografien des Bauhauses für dessen internationale Anerkennung sorgten, wurden erst spät und nach ihrer Flucht aus Deutschland von Gropius die Bildrechte an ihren Fotos zurückgegeben.
1932 musste das Bauhaus in Dessau schließen. Unda Hörner gibt am Ende ihres Buches einen Ausblick auf das weitere Schicksal und die Arbeit der Künstlerinnen und Künstler im Exil und in Deutschland.
Spannend und lesenswert!
Der Platz in so einem Büchlein ist begrenzt, die thematische Vorgabe ebenso. Daher erwähnt Hörner ein paar wichtige Frauen nur am Rande oder gar nicht, etwa Alma Siedhoff-Buscher (bedeutende Spielzeug-Designerin), die das Bauhaus 1927 verlassen hat oder Marianne Brandt (berühmte Innenarchitektin und Designerin von Alltagsgegenständen), die kurzzeitig Leiterin der Metallwerkstatt war und das Bauhaus 1929 verlassen hat, oder die Textilkünstlerin Otti Berger, die als Vertreterin von Stölzl als Meisterin in der Weberei gearbeitet hat.
Tipp zum Weiterlesen: der Roman "Blaupause" von Theresia Enzensberger (erschienen 2017 bei Hanser) über die Erfahrungen einer Studentin am Bauhaus in Weimar und Dessau.
Video-Tipp (im Buch besprochen): Filmserie des Bauhauses von 1926-28, insbesondere Teil 3, in dem die Meisterfrauen die avantgardistische Inneneinrichtung der Häuser zeigen (Bauhaus-Archiv bei Vimeo)