Besprechung vom 06.12.2023
Wiehernde Erzengel galoppieren ins Paradies
Der Kunsthistoriker Uwe Fleckner hat einen Roman über die Suche nach Franz Marcs "Turm der blauen Pferde" geschrieben.
Es gibt kein von Legenden noch mehr umflortes, vom Mystizismus seines Schöpfers noch höher mit einer kosmischen Vision aufgeladenes Gemälde als den "Turm der blauen Pferde". Franz Marc schuf das große Bild 1913 in seinem bayerischen Wohnort Sindelsdorf. Seit dem Zweiten Weltkrieg gilt das Werk als verschollen; es ist nur in Reproduktionen überliefert.
Nun ist ein Roman des Kunsthistorikers Uwe Fleckner erschienen, und der heißt "Im Schatten der blauen Pferde". Fleckner traut sich was: Sein Ich-Erzähler Maximilian Kisch, auch er Kunsthistoriker, wenngleich akademisch nicht wirklich reüssiert, hat sein Leben der Suche nach dem Phantombild geweiht. Kischs Recherchen führen ihn ins Getty Center in Los Angeles, um dort die Nachlässe von Exilierten auf mögliche Spuren zu sichten. Entsprechend der realen Lage - niemand weiß bis heute, ob das Gemälde noch existiert oder in den Wirren bei Kriegsende zerstört wurde -, ersinnt Fleckner einen Plot, der wirkliches Geschehen mit Erfundenem vermischt. Die Literaturwissenschaft kennt für einen solchen Hybrid aus historischen Fakten und Fiktion den Begriff Faction-Prosa.
Kunsthistoriker würden, so argwöhnen selbst Angehörige der Zunft, immer nur für ihresgleichen schreiben. Was dabei herauskommen kann, ist im schlechten Fall kompiliertes Handbuchwissen, gepaart mit Beschreibungsakrobatik und bemühten Vergleichen. Allerdings gibt es namhafte Ausnahmen, es kann also auch gut gehen. Und Fleckner weiß sehr genau, was er tut, wenn er nun keineswegs nur für seine Peergroup schreibt. Schon 2003 hatte er an der Freien Universität Berlin die Forschungsstelle "Entartete Kunst" gegründet; einen weiteren Schwerpunkt dieser Einrichtung, die sich nicht zuletzt mit der Beschlagnahme moderner Werke durch die Nationalsozialisten im Jahr 1937 beschäftigt, richtete er dann an der Universität Hamburg ein, wo er heute lehrt. Im Jahr 2011 gab er zusammen mit Max Hollein, damals Direktor des Frankfurter Städels, den Band "Museum im Widerspruch - Das Städel und der Nationalsozialismus" heraus, der auf einer Tagung basierte.
Um die schon manische Fixierung seines Protagonisten auf dessen Lebensthema darzustellen, entfaltet Fleckner enorm kenntnisreich ein vielschichtiges Panorama, in dem ihm das Kunststück gelingt, einen Spannungsbogen aufrechtzuerhalten und die Leser in dessen vielfältige Verflechtungen zu involvieren. Das Berlin der Vorkriegs- und Kriegszeit wird ebenso verlebendigt wie das Hollywood der Vierzigerjahre mit seiner Gemeinde derer, die dort Zuflucht gefunden haben. Immer wieder treffen die Schicksale historischer und ersonnener Personen aufeinander, bis in die Gegenwart. Über allen erzählten Geschehnissen schwebt der Schatten der blauen Pferde.
So begegnet man einer (freilich ersonnenen) Tischgesellschaft vor vegetarischer Kost bei Hitler, der dabei verfügt haben soll, Marcs "Turm der blauen Pferde", zuvor im Besitz der Nationalgalerie in Berlin, aus der schrecklichen Schau "Entartete Kunst" 1937 in München zu entfernen. Was auch tatsächlich geschah, weil der Deutsche Offiziersbund bei der Reichskammer der bildenden Künste Protest eingelegt hatte: Der Künstler war im März 1916 bei einem Erkundungsritt im Ersten Weltkrieg an der Front bei Verdun gefallen. So gelangte das Bild (was den Tatsachen entspricht) in die Hände von Hermann Göring. Fleckner legt nahe, dass Göring, den es nach alten Meistern gelüstete - weshalb er auf die groteske Vermeer-Fälschung "Christus und die Ehebrecherin" des Betrügers Han van Meegeren ebenso kenntnisfrei wie bereitwillig hereinfiel -, es nicht für die eigene Sammlung wollte, sondern für seine Raubzüge Devisen brauchte, die er sich auch vom Verkauf der "Blauen Pferde" im Ausland erhoffte. Was durchaus plausibel klingt. Von hier aus folgt der Autor den (nun notwendig fiktiven) Wegen des Werks.
Eine historische Person ist auch die deutsche Jüdin Galka Scheyer (Bilder und Zeiten vom 2. Dezember), die schon 1931 die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen hatte und in den Vereinigten Staaten eine unermüdliche Förderin deutscher Künstler war, besonders Alexej Jawlenskys. Bei einem der Feste in ihrem Haus in Hollywood lässt Fleckner (historisch korrekt) Marlene Dietrich auftreten, in Begleitung von Erich Maria Remarque (der tatsächlich eine eindrucksvolle Impressionisten-Sammlung besaß, dokumentiert in einem Band, der 2013 bei Vandenhoek & Ruprecht erschien). Solche Exkurse - samt den Sackgassen, in die sie führen oder die nur winzige Hinweise liefern für Maximilian Kischs Recherchen zum "Turm der blauen Pferde" in der Gegenwart - machen die mühsame Forschungsarbeit sichtbar, die die Rekonstruktion der Herkunft und, im glücklichsten Fall, die Auffindung von Werken "entarteter" Künstler erfordert. Auch wer bisher noch keine Ahnung davon hatte, wird auf 366 Seiten auf diese Pfade mitgenommen. Allein diese durchaus spannend vermittelte Erfahrung macht Fleckners Buch lesenswert. Und wo die Fakten verstummen, beginnt sein Nachtritt in die Fiktion, unterwegs zu den "Blauen Pferden". "Am Ende findet der Roman seine eigene, eine literarische Wahrheit", so steht es ehrlich im Nachwort.
Weil es also ein Roman ist, so mag sich der Autor gedacht haben, gehöre auch eine Liebesgeschichte dazu. Die gerät dann doch ein wenig kitschig zwischen Kisch und Jessica Steiner, einer attraktiven Provenienzforscherin am Getty Center. Doch das hat, wenngleich nicht ganz elegant geschildert, immerhin einen tieferen Grund. Erstens braucht Fleckner einen side kick für seinen Helden, weil sich so weitere Anregungen zu dessen versessenen Forschungen nach den Blauen Pferden in Gesprächen und durch Verbindungen, über die Jessica verfügt, vorantreiben lassen. Zweitens kann, wer mag, Kischs Hingerissenheit von der Frau, die ihn an Amedeo Modiglianis Bildnisse von dessen Geliebter Jeanne Hébuterne erinnert (nur am Rand: Modigliani-Fälschungen sind ungezählt), als ein Ersetzungsmodell verstehen zu seinem - im Kern, wie er selbst weiß, auch einigermaßen sentimentalen - Begehren nach Marcs Gemälde.
Natürlich darf das einigermaßen gewagte Ende des Romans hier nicht verraten werden. Nur so viel: Seine Schlusspointe führt an den Anfang zurück. Denn das erste Kapitel - es beginnt so: "Die Pferde, immer waren es die Pferde, die mich retteten" - ist ein fiktiver innerer Monolog Franz Marcs, kurz vor seinem Todesritt an die Front, in anverwandelter Imitation expressionistischer Prosa. Dort findet sich ein (reales) Zitat aus dem Briefwechsel der Dichterin und Malerin Else Lasker-Schüler mit Marc: "Deine glückseligen, blauen Pferde sind lauter wiehernde Erzengel und galoppieren alle ins Paradies hinein", schreibt sie, der er die wundervollsten Postkarten mit seinen Tiermotiven geschickt hat. Das letzte, das 46. Kapitel, ist dann wieder ein innerer Monolog eines ganz anderen Künstlers, dessen Identität sich beim Lesen erst herausschält. Aber Vorsicht: Diese Volte ist schon verwegener Möglichkeitssinn! Der (erfundene) Text offenbart sich nur kryptisch als das, was er ist - eine buchstäbliche Überschreibung, genauer Übermalung von Franz Marcs Sehnsuchtsbild, "ein Palimpsest der ganzen Kunstgeschichte ist das. Und tief unter der Farbe verborgen liegt eine andere Welt und die ist überbordend mit Gedächtnis gefüllt." Dieses "Gedächtnis" wachzuhalten gegen alles dumpfe Vergessen, das ist die Botschaft von Uwe Fleckners Roman. ROSE-MARIA GROPP
Uwe Fleckner: "Im Schatten der Blauen Pferde". Roman.
C. Bertelsmann, München 2023. 368 S., geb.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.