Besprechung vom 16.03.2024
Der Faschist und die Diva
Ein kleiner Tyrann zwischen Salons, den nordafrikanischen Kolonien und den Milizen: Die Historikerin Victoria de Grazia lässt aus einer exzellent recherchierten und elegant erzählten Mikrogeschichte erhellende Einsichten in Gesellschaft und Politik des faschistischen Italiens hervorgehen.
Dieses Buch liest sich wie ein Roman, wie die Vorlage für ein Drehbuch. Die angesehene amerikanische Historikerin Victoria de Grazia verwebt in ihm die private und politische Geschichte eines Ehepaars aus der faschistischen Elite kunstvoll und spannungsreich mit Aufstieg und Untergang des italienischen Faschismus. Die Hauptfigur, der "perfekte Faschist", ist Attilio Teruzzi, der sich aus Mailänder einfachen Verhältnissen über das Militär und seine Ehe bis ganz nach oben arbeitete. Er gehörte von 1921 bis 1943 zur faschistischen Führungselite und zum inneren Zirkel um Benito Mussolini.
Während der ehemalige Kolonialoffizier selbst Jahre nach der Machtübertragung von 1922 noch nicht begriffen hatte, dass die Chancen für sein weiteres Fortkommen nicht mehr in der Revolution lagen, änderte sich dies durch seine Beziehung zur amerikanischen Opernsängerin Lilliana Weinman, die sich ohne Weiteres zur Hautevolee Mailands rechnen konnte. Das ungleiche Paar begegnete sich im Dezember 1923 auf einer Zugfahrt. Der durch die Aufstandsbekämpfungen in der Kolonie Libyen und den Ersten Weltkrieg mit seinen ersten Auszeichnungen dekorierte Faschist Teruzzi war von Pomp und Brillanz des Auftretens der Diva beeindruckt. Er machte ihr ebenso umständlich wie hartnäckig - mit Hackenschlagen, Handküssen und übergroßen Blumensträußen - den Hof. Ausführlich beschreibt de Grazia dieses lange Werben um die in Grand Hotels logierende "Eisprinzessin".
Die Hochzeitszeremonie mit sechshundert Gästen wurde wie eine Staatsangelegenheit aufgezogen, Geschenke im Wert von über 100.000 Dollar kamen zusammen, und selbst die "New York Times" berichtete über das Ereignis als "faschistische Hochzeit". Mussolini selbst war einer der Trauzeugen. Die Frischverheirateten gingen Ende 1926 in die italienische Kolonie Cyrenaika, in der Teruzzi zum Gouverneur ernannt worden war. Er galt unter den Faschisten noch als gemäßigter Kolonialverwalter, der neben brutalen Aufstandsbekämpfungen immerhin auch Verhandlungen mit den regionalen Eliten suchte. Lilliana Weinman entfremdete sich ihm in dieser Zeit, nicht zuletzt wegen seiner Affären.
Als Teruzzi im Februar 1929 zum Generalstabschef der faschistischen Miliz ernannt wurde und in einen Strudel von politischen Verschwörungen geriet, beendete er mit einem entschiedenen Brief abrupt die gemeinsame Ehe. Vormalige Flirts seiner Frau waren ihm zugespielt worden. Da eine förmliche Scheidung aufgrund der Lateranverträge mit dem Vatikan nicht möglich war, reichte er beim höchsten katholischen Gericht, der päpstlichen Sacra Rota, einen Antrag auf ihre Annullierung ein mit der Begründung, dass seine Gattin eine "unmoralische Frau" sei.
Was den Prozess jedoch wirklich zum Politikum machte, war die Tatsache, dass Lilliana Weinman ihre jüdische Herkunft beinahe zum Verhängnis wurde. War ihr säkulares Judentum von der katholischen Kirche bei der Eheschließung noch umgangen worden, wurde es jetzt gegen sie verwendet. Weinman bekam die in den Dreißigerjahren immer stärker werdende antisemitische Stimmung des Regimes zu spüren. Der Prozess wurde zu einer Art antisemitischem Musterprozess, in dem sich die einflussreiche Gattin jedoch erfolgreich wehrte. Am Ende wurde Teruzzis Antrag auf Annullierung der Ehe abgewiesen.
Im Jahr 1939 wechselte Teruzzi, nach dem Einsatz seiner Miliz im Abessinienkrieg und im Spanischen Bürgerkrieg, als Staatssekretär in das Kolonialministerium und ging zugleich eine zweite, jetzt uneheliche Partnerschaft ein, in der er 1938 zum Vater wurde. Yvette Maria Blank war fast dreißig Jahre jünger als er und Tochter einer koptischen Christin und des - wiederum jüdischen - rumänischen Konsuls von Kairo. Die polyglotte und selbstbewusste junge Frau war allerdings völlig mittellos und vergleichsweise unsichtbar. Die Beziehung hielt nur kurz, da Teruzzi in den Kolonien ständig neue sexuelle Abenteuer suchte. 1942 kam Blank in ein italienisches Internierungslager auf der Insel Lipari. Die Liebe zu seiner Tochter, deren Vormund er wurde, überstand jedoch die folgenden Wirren, von der Ernennung zum Kolonialminister im Jahr 1939 über die Kriegsniederlagen seit 1941 bis zum Sturz des Systems im Jahr 1943. Im nationalsozialistischen Marionettenstaat, der Republik von Salò, blieb Teruzzi Mussolini bis zum Schluss treu. Er erhielt eine Gefängnisstrafe von dreißig Jahren und starb wenige Tage nach seiner Amnestierung im April 1950.
Mit Teruzzi steht einer der vielen kleinen Tyrannen des faschistischen Regimes auf der Bühne. Als historische Erzählerin demonstriert Victoria de Grazia dabei höchste historische Darstellungskunst. In der Leichtigkeit und Eleganz ihres Erzählens, mit spitzem Humor bei der Charakterisierung ihrer historischen Figuren, vermittelt sie ganz nebenbei zentrale Einsichten in Gesellschaft und Politik Italiens im zwanzigsten Jahrhundert - von der Geschichte der klatschsüchtigen Oberschichten in der Metropole Mailand und der politischen Schickeria im intrigenträchtigen Rom; vom Vernichtungskrieg gegen Abessinien bis zur megalomanen Bau- und Siedlungsgeschichte in den nordafrikanischen Kolonien; vom Populismus und Militarismus des Regimes und von den frauenverachtenden Männlichkeitsbildern der faschistischen Eliten bis hin zum gewaltgeladenen Antisemitismus und Rassismus. Das exzellent übersetzte und sorgsam mit Fotografien und Karten illustrierte Buch liefert eine glänzend recherchierte Mikrogeschichte, die mitten hineinführt in wichtige Stränge der italienischen und europäisch-afrikanischen Geschichte.
Was aber bedeutete es, ein "perfekter Faschist" zu sein? De Grazia schildert einen beständigen Kampf ihrer Hauptfigur. Einerseits ging es um das Bestehen in der exklusiven Welt der italienischen Bourgeoisie, andererseits um die brutale männlich-weiße Vorherrschaft in den Kolonien und im Milizsystem mit seinem Gewaltreservoir. Zwischen diesen Polen und Gefühlen - Hingabe an die Familie, Glaube an die Mission imperialer Vorherrschaft und Pflichtgefühl gegenüber der Nation und dem Duce - galt es immer wieder abzuwägen. Ideologische und religiöse, persönliche und öffentliche Angelegenheiten verschwammen ineinander. Während Alberto Moravia in seinem berühmten Roman den "Konformisten" als Grundfigur im faschistischen "Irrenhaus" erkannte, ist es bei de Grazia das "Alles-oder-Nichts-Denken" der italienischen Elite, welches sich durch Denunziationen, Spitzelei, Korruption und Verleumdungen hindurchnavigierte. SVEN REICHARDT
Victoria de Grazia: "Der perfekte Faschist". Eine Geschichte von Liebe, Macht und Gewalt.
Aus dem Englischen von Michael Bischoff. Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2024.
512 S., Abb., geb.
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