Ein zugleich warmherziges und spannendes Buch in einem ungewöhnlich konstruierten Stil!
Wir begleiten die 73-jährige Sibyl van Antwerp, ehemalige Star- Juristin und zeitlebens eifrige Briefeschreiberin, durch die Jahre 2012 bis 2021.
Der komplette Roman besteht nur aus Briefen, entweder von Sibyl selbst geschrieben oder als Antworten auf ihre Texte.
Die Empfänger der immer handschriftlich auf hochwertigem Briefpapier verfassten Post sind äußerst vielfältig: die eigene Familie, berühmte Autoren, Nachbarn, alte und neue Bekanntschaften und gelegentlich auch E-Mails an Ärzte oder Verlage.
Schon nach wenigen Seiten hatte ich das Gefühl, Sibyl zu mögen und mit jedem weiteren Brief wollte ich mehr über sie und ihre Lebensgeschichte erfahren.
Das Verhältnis zu ihrer Tochter Fiona scheint zerrüttet, ihr Sohn Bruce lebt weit entfernt, und Gilbert, der dritte Sohn, verstarb im Kindesalter, was Sybil Ihr ganzes Leben lang begleitet hat.
Ihr Bruder ist mit einem Mann liiert und lebt in Paris, ihre beste Freundin und Schwägerin Rosalie macht oft lange Schreibpausen, das sie Mann und Sohn pflegen muss.
Daneben gibt es noch ihren freundlichen Nachbarn, Theodor, einen späten Verehrer namens Mick aus Texas, einen nerdigenTeenager, dem sie auf Bitten seines Vaters schreibt, sowie einen syrischen Mitarbeiter eines DNA Labors.
Im Laufe des Buches tauchen noch einige andere überraschende Kontakte auf und nach und nach setzt sich Sibyls Leben wie ein Puzzle für den Leser zusammen.
Denn sie weiß zwar seit Kindheitstagen, dass sie und ihr Bruder adoptiert waren, jedoch gibt es außer einem kurzen Brief keinerlei Hinweise auf ihre Mutter und trotz ihres Alters nagt diese Tatsache offenbar immer noch an Sibyl.
So entfaltet sich Brief um Brief die komplette Familiengeschichte und ich lernte auch Sibyls manchmal harsche Art besser verstehen.
Jeder ihre Texte zeigt ihren scharfen Verstand, ihre Feinsinnigkeit, Lebenserfahrung und auch Neugier auf Dinge, die sich erst jetzt, in ihren späteren Jahren, entwickeln.
Sie drückt sich äußerst gewandt aus und beeinflusst einige ihrer Adressaten durch Lebenserfahrung.
In vielen Briefen hinterfragt sie sich jedoch selbst und hält Rückschau auf ihr bisheriges Leben, in dem trotz ihrer herausragenden Karriere einiges an Missständen herrscht.
Da ich früher selbst gern und viel Briefe geschrieben habe, kam mir diese Art des Romans sehr entgegen und ich fand den Aufbau des Buches wunderschön gestaltet. Man nähert sich Sibyls Leben Schritt für Schritt an und gleichzeitig bemerkt man auch eine Änderung in ihrem Verhalten, da sie durch ihre Briefe viel reflektiert.
Das mag vielleicht langatmig klingen, ist es aber überhaupt nicht, denn jeder Brief hat genau die Bedeutung, die er benötigt, um für das Buch wichtig zu sein. Sogar die langen Pausen zwischen manchen Korrespondenzen haben Sinn ergeben und am Ende fügt sich das Ganze zu einer spannenden, faszinierenden und auch liebevollen Geschichte.
Die Autorin hat es geschafft, für mich sämtliche Empfänger von Sibylles Briefen lebendig werden zu lassen und ich habe bei jedem neuen Text versucht, aus dem Inhalt zu erraten, an wen diese Post geht.
Das Aquarellmotiv auf dem Umschlag passt gut zum Inhalt, denn Sibyl schreibt ihr die Briefe an einem Schreibtisch mit Blick zum Garten und See.
Für mich ein sehr gelungener Roman, der mit einem ungewöhnlichen Aufbau Schicht um Schicht einer sympathischen Persönlichkeit zeichnet, die ich im wirklichen Leben tatsächlich gerne kennengelernt haben würde!