
Ein packendes Lebens- und Epochenporträt zum 50. Todestag
Hannah Arendt hat die ganze Geschichte des 20. Jahrhunderts am eigenen Leib erlebt. Als Tochter aus einem großbürgerlichen Haus wächst sie in der Kant-Stadt Königsberg auf, studiert an der Universität Marburg, jenem Ort, an dem sich die geistige Produktivität der zwanziger Jahre auf einzigartige Weise verdichtet, und verliebt sich dort in den charismatischen Philosophen Martin Heidegger. Hitlers Machtergreifung treibt sie ins Exil, sie wird in Frankreich interniert, entkommt nach New York, wo sie wieder ganz von vorn anfängt. Sie entwickelt sich zu einer politischen Theoretikerin, die englisch schreibt, weiter deutsch denkt und sich dabei immer als Jüdin versteht. Mit ihrem Bericht vom Eichmann-Prozess erregt sie weltweit Aufsehen.
Anschaulich und packend erzählt Willi Winkler das Leben Hannah Arendts als die Geschichte einer Frau voller Widersprüche, einer Frau, die sich nach Verfolgung und Vertreibung in Amerika eine neue Identität aufbaut, mit ihrem messerscharfen Verstand alle Männer ihrer Umgebung überstrahlt, dabei aber immer das «Mädchen aus der Fremde» bleibt, als das sie sich selbst bezeichnet. - Die faszinierende Biographie einer der populärsten intellektuellen Ikonen und brillanten Beobachterin ihrer Zeit.
Besprechung vom 04.12.2025
Hannah Arendt und kein Ende
Willi Winkler und Matthias Bormuth steuern noch zwei Lebensbilder der Philosophin bei, deren Todestag sich heute zum 50. Mal jährt.
Er wurde geboren, arbeitete und starb" - so wollte Hannah Arendts lebenslanger Lehrer Martin Heidegger ein ordentliches Philosophenleben sehen. Schön wär's! Bereits bei Heidegger selbst machte die Welt irgendwann Schluss damit, den unphilosophischen Zustand des unreinen Lebens zugunsten des philosophischen Zustands des reinen Denkens wunschgemäß zu vergessen. Und bei Hannah Arendt? Drei fünfhundertseitige Biographien in zwei Jahren, dazu ein "biografischer Abriss" in weitaus knapperer Form. Liest also der leicht erschöpfte Rezensent zum vierten Mal dieselben Geschichten neu erzählt, dann stellen sich ihm zwangsläufig andere Fragen als beim ersten Mal: Worin unterscheiden sich die vier? Bringen diese Unterschiede auch einen Erkenntnisgewinn? Und schließlich: Was bedeutet bloß diese Konjunktur, ja Mode, die uns einen solchen Überfluss beschert an Lebensbeschreibungen einer Theoretikerin?
Dass Arendt keineswegs nur geboren wurde (am 14. Oktober 1906 in Hannover), arbeitete (unter anderem in Marburg, Heidelberg, Paris, New York) und starb (vor fünfzig Jahren, am 4. Dezember 1975 in New York), ist offenkundig die gemeinsame Überzeugung der vier Biographen, aber sonst? Thomas Meyers anspruchsvolle Studie empfand der Rezensent zuweilen allzu sprunghaft-improvisiert (F.A.Z. vom 14. 10. 2023), in Grit Straßenbergers "Die Denkerin", vermisste er bei aller gelassenen Gründlichkeit ein wenig mehr an eigener Sprache und Perspektive (F.A.Z. vom 11. Oktober). Von diesen beiden unterscheiden sich nun Matthias Bormuth und Willi Winkler deutlich.
Eigene Sprache, eigene Perspektive, die findet man reichlich und höchst unakademisch bei Willi Winkler, übrigens auch der Einzige der vier ohne Professur, was ihm durchaus nicht schadet. Sein Buch wird manchem Arendt-Verehrer nur wenig zusagen, verweigert es doch, bei allem Respekt, von der ersten Seite bis zur letzten das oft ermüdende Tremolo kritikloser Verklärung bei ebenso oft spärlichem Tatsachenbezug.
Winklers Lust an der Provokation, seinem saloppen, journalistisch geschulten Sound begegnete der Rezensent anfangs skeptisch, ließ sich dann doch Schritt um Schritt fesseln. Das geht ganz sicher nicht ohne Kopfschütteln und Widerspruch, aber es entsteht ein komplexes, niemals homogenes, deshalb sehr lebendiges Bild dieser bedeutenden Frau auf einem von Männern dominierten Parcours. Was Winkler interessiert, ist die Intellektuelle; bei Jugendgeschichten hält er sich kaum auf, das Leben der Denkerin beginnt erst mit dem Marburger Studium und Heidegger. Das Schwergewicht liegt auf den amerikanischen Jahren, den großen Büchern, den politischen Interventionen, den internationalen Polemiken, der Eichmann-, der Little-Rock-Kontroverse.
Winkler schont Arendt nicht. Was er erzählt, ist nicht neu, steht natürlich bereits in den Vorgängerbüchern, doch seine Schärfe präpariert die Konfliktlinien viel konturierter heraus. So war Arendt zwar Verteidigerin des freien Denkens, gegenüber Kritik blieb sie selbst allerdings rechthaberisch und wenig diskussionsbereit. Das gilt für den heftigen Zionismus-Streit mit Gershom Scholem, aber selbst im Fall Little Rock, wo sie bizarrerweise die Rassentrennung an Schulen verteidigte, bekannte sie zwar später ihren krassen Irrtum - doch eben nie öffentlich, sondern nur im privaten Brief.
Matthias Bormuth ist zwischen den drei Schwergewichten der bewegliche Solitär. Er übergeht souverän so manches Arendt-Highlight, doch gelingt es ihm umso mehr, die Thesen und Perspektiven herauszustellen, mit denen er Arendts Bild schärfen will. Arendt ist ihm eine Autorin mit doppelter Wurzel: hier die einflussreiche politische Theorie, rational, pragmatisch, argumentierend; dort die oft übersehene Seite, ein Sprechen, das spekulativ ist, sehr subjektiv, häufig mehr an literarischer Rede orientiert als an überprüfbarer Argumentation.
Für Bormuth liegt in dieser Doppelperspektive die eigentliche Qualität von Arendts Werk, und er stützt sich dabei nicht nur originellerweise auf die Dissertation "Der Liebesbegriff bei Augustin", sondern gerade auch auf die am heißesten umstrittenen Traktate. Und ist etwa das berühmte Diktum von der "Banalität des Bösen" nicht tatsächlich eher expressive Formel als belastbares Theorem?
Das Risiko solchen Schreibens liegt ebenfalls auf der Hand: Ob Eichmann ein "Hanswurst" und "von empörender Dummheit" war, ist angesichts eines Genozids einfach nur gleichgültig, und Dummheit ist eine weit verbreitete, eher traurige als "empörende" Eigenschaft von Menschen. Man wird solches Abgleiten in expressive Rhetorik noch immer wenig überzeugend finden, doch Bormuth macht plausibel, dass Arendts Schreiben nicht ausschließlich an Wissenschaftssprache gemessen werden will.
Eines resümieren alle vier Biographen: Heideggers entscheidenden, lebenslangen, auch unheilvollen Einfluss auf Arendts Denken. Man wird nicht so weit gehen wie Emmanuel Faye, der beiden eine gemeinsame "Zerstörung des Denkens" anlasten möchte (F.A.Z vom 12. Juli 2024), doch kann man selbst nach der wohlwollendsten Darstellung nicht leugnen, dass Arendts wiedererwachte Neigung ihre Urteilsfähigkeit getrübt hat.
Am härtesten, ja ehrlichsten ist hier wiederum Winkler, der nichts auslässt an Peinlichkeit: sei es Heideggers kitschgesättigte Briefprosa, sein eifersüchtiges Schweigen gegenüber Arendts wachsendem Weltruhm, sei es Arendts schiefes Lavieren zwischen öffentlichem Heidegger-Lob und heimlicher Kritik ins Ohr von Dritten, seien es vor allem die Konsequenzen, die ihr späteres Verkleinern seines NS-Engagements für ihr Kernthema haben musste: Die Freiheit, aber auch die Verantwortung des Individuums vor der totalitären Versuchung sehen doch recht anders aus, wenn man plötzlich Gründe findet, diese Verantwortung in einem besonders prominenten Fall doch wieder zu zerreden.
Die gängige Arendt-Verklärung will von solchen Ambivalenzen nichts wissen und wird sich wohl auch von Willi Winkler kaum beirren lassen. Dennoch, sein Buch, zwar ohne Samthandschuhe, betreibt keineswegs Arendt-Demontage und begegnet der ihrerseits recht angriffslustigen Autorin viel angemessener als eine Apologie, die selbst entgleiste Formeln wie "Keiner hat das Recht zu gehorchen" zur Seelenmassage benutzt.
Matthias Bormuth steht vollkommen unabhängig von dieser Alternative, auch ist Provokationsfreude ganz und gar nicht sein Geschäft. Bormuth malt kein großes, farbenprächtiges Historienbild, sein Genre ist die leicht wirkende, doch genaue Porträtzeichnung. Natürlich bleibt da vieles ausgespart, doch treten entscheidende Charakterzüge in Arendts intellektueller Biographie umso klarer hervor, vor allem ihr eigentümliches Doppelleben zwischen Wissenschaft und Literatur; hier kann und sollte man anknüpfen.
Und der Rezensent macht nun zwar vorerst Schluss mit Arendt-Biographien, stellt aber doch erleichtert fest, dass ein und dasselbe Leben durchaus zu einer anderen Geschichte werden kann, den Erzählern sei Dank. WOLFGANG MATZ
Matthias Bormuth:
"Von der Unheimlichkeit der Welt". Denken mit Hannah Arendt.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2025.
174 S., br.,
20,- Euro.
Willi Winkler: "Hannah Arendt: Ein Leben".
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2025.
512 S., geb., Abb.,
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.Es wurden noch keine Bewertungen abgegeben. Schreiben Sie die erste Bewertung zu "Hannah Arendt" und helfen Sie damit anderen bei der Kaufentscheidung.