Besprechung vom 10.01.2019
Ein Hund mit Namen Gletscherspalte
"Wir fühlten uns in Tiflis nicht fremd . . . Wir fühlten uns ziemlich zu Hause", notierte John Steinbeck 1947 in der legendären Reportage "Russische Reise". Der Satz gehört seitdem zum Kanon aller Georgienreisenden. Auch Eva Dietrich stellt ihn ihrem schmalen Buch voran. Knapp siebzig Jahre nach Steinbeck ist die Züricher Religionswissenschaftlerin, Kunstkritikerin und Journalistin für ein paar Monate in das Atelier einer Kunststiftung in Tiflis gezogen und fühlt sich im Nu "seltsam vertraut" mit der georgischen Hauptstadt. Mit schlafwandlerischer Unbedarftheit unternimmt sie Streifzüge zu einstürzenden Häusern in der zur flächendeckenden Ruine versinkenden Altstadt, zu leeren Karawansereien, zu einem Nonnenkloster mit Flachdach, unter dem die Äbtissin Liköre, Melonenmarmelade und Blauschimmelkäse herstellen lässt. Alles scheint wundersam. Manches gleicht gar einem Wunder. Wundern muss sich die Stadtwandlerin hingegen über nichts. Nicht einmal über kaukasische Hirtenhunde, die Nabral, zu deutsch Gletscherspalte, heißen, und die Autorin beim Versuch, den 5047 Meter hohen Kasbek zu besteigen, vorm Sturz in selbige schützen. Wir hingegen stolpern über Volksgruppen, von denen wir nie gehört haben. Im Pankisi-Tal etwa, wo die achtzigjährige Gato einen Ehemann sucht, der stumm und reich sein soll, trifft Eva Dietrich auf die sieben- bis achtausend Köpfe zählende Volksgruppe der Kisten. Da hat sie Tiflis längst verlassen und lernt das Staunen, nein, nicht über die unschöne Gewohnheit, Al-Qaida-Kämpfern einen Rückzugsort zu gewähren oder das Tal als Transitstation für Drogen und Waffen zu nutzen, sondern über sufistische Gebetsrituale. Die dürfen bei den Kisten auch von Frauen zelebriert werden, ein sonst unvorstellbarer Brauch. Willkommen in der Fremde, also doch.
ksi
"Das fremde Gewürz. Geschichten aus Georgien" von Eva Dietrich. Mit Fotos der Autorin. Capybarabooks, Luxemburg 2018. 128 Seiten, einige Fotos. Broschiert
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