Marc Raabe gelingt es immer, einen Einstieg zu entwickeln, der mich sofort in die Geschichte saugt und mich bis zum Schluss nicht mehr entkommen lässt. So auch hier. Der Prolog ist fesselnd geschrieben, viele Fragen stellen sich mir und die Luft knistert vor Gefahr und Spannung. Erst zum Ende von Die Nacht wird sich der geheimnisvolle Nebel um diese erschütternde Szenerie lüften und ich werde den Prolog dann in einem völlig anderen Licht betrachten.
Die Nacht ist in vier Abschnitte unterteilt, wobei der Letztere lediglich der finalen Aufklärung dient und geschickt die Neugier auf den nächsten Teil der Serie weckt. Die Abschnitte sind betitelt und ich kann nur erahnen, was auf mich zukommen wird. Die Nacht lebt von zwei starken Erzählsträngen. Der Handlungsfaden aus der Vergangenheit gehört ausschließlich Dana und wird als solches auch am Kapitelanfang gekennzeichnet. Genauso wie der Gegenwartsstrang entwickelt sich die Geschichte chronologisch, sodass ich gut den Ereignissen und den daraus folgenden Dramen folgen kann.
In der Gegenwart liegt der Fokus wieder hauptsächlich auf Art Mayer und Nele Tschaikowski. Die Perspektivwechsel ermöglichen es mir, eine größere Gesamtübersicht zu erhalten.
Wie auch schon beim Vorgänger empfehle ich Die Nacht nicht ohne Vorkenntnisse zu lesen, da einige noch offene Handlungsfäden aus den ersten beiden Bänden aufgegriffen und weitergesponnen werden. Die Geschichte setzt mehrere Monate nach den Ereignissen von Band 2 ein.
Im Mittelpunkt dieses Thrillers steht Arts persönliche Suche nach seiner verschwundenen Nachbarin Dana, die Mutter von Milla. Schon fast zwei Jahre lang hat Art nach Dana gesucht, doch erst jetzt kommt durch seine Intervention endlich Bewegung in die Sache. Doch als er bei seiner Recherche nach einem neuen Hinweis zusammen mit Nele über die Leiche eines Richters stolpert, scheint sich der Fall noch weiter zu verkomplizieren. Und plötzlich gibt es mehr Fragen als Antworten. Was verbindet den Mord an einem Richter mit Dana und ihrer mysteriösen Vergangenheit? Diese Frage treiben Art und Nele an, wobei sie sich jedoch inoffiziell mit dem Fall befassen müssen. Nele ist in Elternzeit und Art ist aufgrund seiner persönlichen Verbindung zu Dana kein Mitglied der Ermittlungsgruppe.
Art kommt durch sein persönlichen Engagement und seine Arbeit als BKA-Ermittler in einen inneren und beruflichen Konflikt, was ihm jedoch viel Tiefe verleiht und ihn unglaublich sympathisch macht. Es fasziniert mich, wie es Marc Raabe schafft, Art als Ermittler zu zeigen, der nicht nur von einem tiefen Gerechtigkeitssinn getrieben ist, sondern auch von einem unerschütterlichen Mitgefühl für die Menschen um ihn herum, welches sich aus seinen eigenen vergangenen Erlebnissen speist. Ich kann seine Handlungen gut nachvollziehen und bin immer wieder erstaunt über die Authentizität, die er ausstrahlt.
Auch Nele Tschaikowski macht in Die Nacht eine interessante Entwicklung durch. Sie ist inzwischen Mutter geworden und muss nun einen Weg finden, ihre Berufung als Polizistin mit den Herausforderungen der Elternschaft zu vereinbaren. Ihre inneren Konflikte, besonders in Bezug auf ihre Beziehung zu Roman, treten noch deutlicher hervor. Trotz dieser privaten Schwierigkeiten bleibt Nele das perfekte Pendant zu Art. Die beiden ergänzen sich nicht nur durch ihre verschiedenen Fähigkeiten, sondern auch in ihrem Blick auf Verantwortung, besonders in Bezug auf Milla. Ihr Wohl haben sie beide gemeinsam im Blick. Die Zusammenarbeit zwischen Art und Nele ist bereichernd und ich begleite sie beide unheimlich gern bei der Suche nach der Wahrheit.
Die Vergangenheit von Dana und ihrer Familie wird auf eine so packende Art und Weise beleuchtet, dass ich emotional total abgeholt werde. Dabei finde ich die Übergänge zwischen den beiden Zeitsträngen äußerst gelungen. Die ständigen Cliffhanger sorgen dafür, dass ich immer weiterlesen möchte. Ständig ändert sich die Richtung, in welche sich Die Nacht entwickelt und ich kann nur selten schätzen, wie es weitergehen wird.
Obwohl Die Nacht von vielen Charakteren lebt, verliere ich nie den Überblick. Sie sind durchgängig lebendig ausgearbeitet. Besonders gefallen mir die Charaktere, die aus den ersten beiden Bänden wieder mit dabei sind. Die Einführung neuer Figuren bringt der Geschichte eine zusätzliche spannende Dynamik und gibt dem Ganzen neue und packende Impulse.
Die Nacht ist temporeich und atmosphärisch dicht erzählt. Marc Raabe versteht es meisterhaft, Spannung aufzubauen und sie konstant zu halten. Der Wechsel zwischen Gegenwart und Vergangenheit, der mit dem personalen Erzähler geschickt umgesetzt wird, sorgt dafür, dass es keine langatmigen Stellen gibt. Ich finde es besonders spannend, wie sich die Rückblenden zu Danas Geschichte immer mehr mit den Ereignissen in der Gegenwart verbinden und sich so stetig kleinere Geheimnisse enthüllen lassen. So manches Mal ereilt mich regelrecht ein Aha-Effekt.
Der Showdown am Ende ist ein echter Höhepunkt und dieses Mal im Fokus nicht ganz so actionlastig. Viel mehr wird es psychologisch und ich mag diesen fragilen Drahtseilakt, der jeden Augenblick die Lage zu kippen droht. Trotz der vielen offenen Fragen, die während des Lesens aufgeworfen werden, sorgt das Finale für eine überraschende, aber durchaus schlüssige Auflösung, die jedoch nicht alles enthüllt. So wird direkt meine Neugier auf den nächsten Band geschürt.
Fazit:
Die Nacht ist ein rundum gelungener Thriller, der mich mit seinen komplexen Charakteren, einer cleveren Story und einem mitreißenden Spannungsbogen zu überzeugen weiß.