
Besprechung vom 23.08.2025
Im Raum erfahrener Gewalt
Matthias N. Lorenz widmet sich der erinnerungspolitischen Verarbeitung des Pogroms in Rostock-Lichtenhagen
Die Erinnerung an das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen folgt keinem Gedenktag: Es fand statt zwischen dem 22. und dem 24. August 1992 und liegt also 33 Jahre zurück. Der Literatur- und Medienwissenschaftler Matthias N. Lorenz, der vor einigen Jahren mit seiner Studie zu antijüdischen Ressentiments bei Martin Walser über Fachgrenzen hinaus polarisierte, rekonstruiert die Ereignisse und Nachwirkungen von Rostock-Lichtenhagen an Fotografien entlang, die Täter ebenso zeigen wie Opfer. Multiperspektivisch und angenehm jargonfrei versucht er hinter die Bilder zu schauen. Harald Ewert, dessen Foto, das ihn mit eingenässter Hose und Hitlergruß zeigt, zum Inbegriff einer taumelnden Transformationsgesellschaft wurde, rekonstruiert er als den bösen Deutschen, den man sich in Deutschlands Westen, der an rechtsradikalen politischen Angeboten wie Gewaltverbrechen dem Osten nicht nachstand, als Entlastungsfigur wünschen musste. Und ohne den auch die damalige Regierung nicht auskam, die angeblich den Volkszorn über die "Scheinasylanten" beruhigte, indem sie die Asylgesetzgebung verschärfte.
Auf der anderen Seite steht das Foto von Ioana Miclescu mit ihren verängstigten Kindern und einer Einkaufstüte, deren Aufdruck "Jetzt können Sie einpacken" angesichts der Ereignisse zynisch anmutet (was den Fotografen wohl zu dieser Aufnahme verleitete). Lorenz zeigt, dass für sie und andere Roma Rostock-Lichtenhagen in einer Kontinuität von Feindschaften seitens der Mehrheitsbevölkerung stand, die von Bukarest bis nach Deutschland reichten. Tage vor den in Rostock-Lichtenhagen geworfenen Molotow-Cocktails war ein junger Rom in Mecklenburg-Vorpommern von Jägern "aus Versehen" getötet worden. Lorenz deutet die Aufnahme von Ioana Miclescu als ein Bild, "das sichtbar macht, worum es geht, wenn wir über rechte Gewalt sprechen: um das vulnerable, das 'nackte Leben'".
Die Universalität des "nackten Lebens" und die Notwendigkeit, dieses zu schützen, standen im Zentrum einer Aktion, die über das Gedenken an Rostock-Lichtenhagen hinauswies. Im Oktober 1992, zwei Monate nach den Anschlägen, reisten sechzig Vertreter französischer jüdischer Organisationen an die Ostseeküste, angeführt von Beate und Serge Klarsfeld. Die Aktion fand statt, nachdem das Asylrecht verschärft und die Rücküberstellung illegal eingereister Roma in Gesetzesform gegossen war. Die Organisatoren fanden die von ihnen gezogene Parallele zwischen den ausländerfeindlichen Gewalttaten in Rostock und den nationalsozialistischen Razzien gegen aus Rumänien geflohene Juden im Frankreich von 1942 durch diese Gesetzgebung bestätigt.
Die Polizei ging gegen die jüdischen Aktivisten vor, die ohne vorherige Absprache eine Gedenktafel anbrachten. Höhere Stellen mussten eingreifen, um ein diplomatisches Desaster zu verhindern. Wochen später wurde Ignatz Bubis, damals Vorsitzender des Zentralrats der deutschen Juden, vom Senat nach Rostock eingeladen, um gemeinsam mit dem Bürgermeister den Imageschaden der Stadt zu mindern. Die Kommunalpolitiker wollten sich für den Wiederaufbau einer jüdischen Gemeinde einsetzen. War denn nicht offensichtlich, dass die wenige Wochen zuvor von Einheitsverlierern am Bratwurststand angefeuerte Gewalt nichts gemein haben konnte mit antisemitischem Unrecht oder gar Staatsterror? Als ein Journalist nahelegte, die "sozialen Umstände" verantwortlich zu machen, antwortete Bubis nicht. Er weinte.
Für Lorenz zeugt diese Reaktion am Ort der Gewalt davon, "dass ein rassistisches Massenpogrom in Deutschland immer an die Pogrome der Vergangenheit erinnern wird". Bubis wie auch die jüdischen Aktivisten aus Frankreich unterbrachen mithin das "deutsche Gedächtnistheater", sie traten aus den Rollen, die ihnen die Bundesrepublik zugewiesen hatte. Sie zeigten, dass Gewalterinnerungen von sich aus in verschiedene Richtungen weisen, weil sich damit verbundene Erfahrungen gegenseitig aufrufen.
Anders als die bisherigen Bände der Reihe, in der dieses Buch erscheint, konzentriert es sich weniger auf das Bild als Akteur oder auf den Schauplatz, der von ihm eröffnet wird, sondern auf das Bild als Zeugen. Statt um die Gewalt, zu der Bilder aufrufen können, geht es um erinnerungspolitische Erzählungen und Praktiken. Diese Verengung wird im Vorwort aufgebrochen, in dem der Schriftsteller Clemens Meyer die Atmosphäre der "Baseballschlägerjahre" beschreibt. Bilder entsetzen, sie evozieren aber auch, alte mit neuen Bildern zu überblenden. Dies umso mehr, als die Neunzigerjahre in Ostdeutschland eben auch unter einem partiellen Ausfall von Bildern litten, mit denen biographische Übergänge gestaltet werden konnten oder aus denen sich Vorbilder ableiteten (von der intakten Kleinfamilie bis zur Jugendweihe). Auch hier wäre wohl der Ort der Gewalt dieser Zeit zu suchen. Das Buch von Matthias Lorenz ist da ein wichtiger Fingerzeig. ULRICH VAN LOYEN
Matthias N. Lorenz: "Nachbilder".
Mit einem Vorwort von Clemens Meyer. Schlaufen Verlag, Berlin 2025.
202 S., geb.
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