Besprechung vom 05.01.2024
Maskeraden im Atelier
So lehrreich und anregend kann die Liebeserklärung an ein Bild ausfallen: Wolfgang Kemp über ein Gemälde Rembrandts - und einen Philosophen in Amsterdam.
Ich spaziere alle Tage mit ebenso viel Freude und Behagen durch das Gewoge einer großen Menge wie Sie durch Ihre Alleen, und ich betrachte die Menschen, die ich dort sehe, nicht anders als ich die Bäume in Ihren Wäldern oder die Tiere betrachte, die dort vorüberziehen." So schreibt René Descartes im Jahr 1631 an einen Bekannten in Frankreich, der zurückgezogen auf seinem Schloss in Angoulême lebt. Descartes wohnte damals, mit Unterbrechungen, bereits seit zwei Jahren in Amsterdam, das zwar deutlich kleiner war als Paris, aber groß genug, um ihm als Fremdem das verborgene, von der Umgebung nicht weiter wahrgenommene Leben zu gestatten, für das er Frankreich verlassen hatte.
Ob er bei seiner Weise des Stadtgebrauchs von Rembrandt sprechen hörte, zumindest in den späteren Jahren, lässt sich nicht sagen. Vielleicht, denn schließlich wurde der 1631 ebenfalls nach Amsterdam gekommene Rembrandt dort binnen recht kurzer Zeit zum gesuchten und erfolgreichen Künstler mit florierender Werkstatt. Dass er andere Vorteile aus dem städtischen Treiben zog als Descartes, liegt auf der Hand.
Weshalb man auch nicht ohne Weiteres darauf kommt, Descartes und Rembrandt zu verknüpfen. Wolfgang Kemp tut es trotzdem, nutzt dafür den gemeinsamen Wohnort als Grundierung und wählt das Jahr 1641 als Fokus - da publiziert Descartes seine "Meditationen über die Grundlagen der Philosophie", und Rembrandt malt das heute in Warschau hängende Bild "Mädchen im Bilderrahmen". Zwischen diesen beiden Polen wird das Motiv hin- und hergespielt, das der Titel des Essays nennt: Täuschung.
Bei Descartes ist damit sowohl der "genius malignus" aufgerufen, der zum Zweck der philosophischen Fundierung ins Spiel gebrachte Täuscher in extremis, wie die letztlich über ihre ontologische Zweitrangigkeit täuschenden sinnlichen Eigenschaften der wahrgenommenen Dinge, die als sekundäre Qualitäten beiseitegekehrt werden, um bloß der Ausdehnung die Bühne für die neue Naturphilosophie zu überlassen. Aber ins Spiel kommen auch die cartesischen Maximen der Maskierung ihres Autors, das "larvatus prodeo" oder die (nicht durchgehaltene) Einklammerung seiner gewagten Weltschöpfungsgeschichte als bloße "Fabel" im nachgelassenen Traktat "Le Monde".
Auf der anderen Seite, bei Rembrandt, ist die Täuschung schon durch die zeitgenössische Literatur zur Malkunst durch wohleingeführte Topoi präsent: Bilder als täuschende Nachahmungen, mit dem dafür paradigmatischen Genre des Trompe-l'OEil. Womit freilich das Besondere von Rembrandt noch nicht erreicht ist, um das es Kemp vor allem zu tun ist, nämlich der sparsame, gerade deshalb aber fesselnde Gebrauch der augentäuschenden Durchbrechung der Bildebene in einem Spiel von gemalten Händen und Rahmen, mit dem eine gesteigerte Präsenz der Dargestellten erreicht wird. Im Fall des ausgewählten Bildes: eine Hand, die sich anschickt, diesen gemalten Rahmen zu berühren, während die andere sich bereits auf ihn gelegt hat.
Man kann nicht sagen, dass Kemps subtile und eingängige Interpretation von Rembrandts Bild, welche eine Reihe von anderen Werken hinzuzieht, der Verknüpfung oder viel mehr Kontrastierung mit Descartes - schließlich relegiert der Philosoph entschlossen in die zweite Reihe, was für den Maler prima materia ist, die Farbe - wirklich Entscheidendes verdankt. Überaus reizvoll ist sie trotzdem, schlägt sie doch unvermutete Verbindungen, etwa vom wohlgeheizten Zimmer, in dem Descartes seinen beschriebenen Exerzitien nachgeht, zu den kalten oder befeuerten Kaminen der gemalten holländischen Interieurs, von Descartes' "larvatus prodeo" zu den Verkleidungen in Rembrandts Atelier und den Abwandlungen der Gattung des Porträts, die dort erprobt werden, oder von einem Holzschnitt aus der "Dioptrique" zu Rembrandts Verfahren, den Blick aus einer verschatteten Zone hervorkommen zu lassen.
Zumal sich der Kunsthistoriker Kemp in der Literatur zu Descartes durchaus umgesehen hat. Vielleicht wichtiger aber noch ist in dieser Hinsicht seine Wahl eines Mittelsmanns, der für eine Lektüre Descartes einsteht, die alle rhetorischen Schachzüge von dessen Nullpunktfiktion einer grundlegenden intellektuellen Selbstreform ("semel in vita") begeistert nachvollzog, nämlich von Paul Valéry. Seine Texte über Descartes wieder oder zum ersten Mal zu lesen ist eine Anregung, die dieser elegant geschriebene, genau gearbeitete Essay sogar auch noch gibt. HELMUT MAYER
Wolfgang Kemp: "Die ehrbaren Täuscher". Rembrandt und Descartes im Jahr 1641.
Schlaufen Verlag, Berlin 2023. 155 S., Abb., br.
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