Besprechung vom 02.08.2025
Wittenberger Zauberlehrling
Wenn etwas Bedeutsames zu Ende geht, lohnt sich der Blick zurück zu seinem Anfang. Zurzeit verabschiedet sich ein Großteil der Deutschen vom Buch und wechselt zu flüchtigeren Formen der Informationsvermittlung und Unterhaltung im Internet mit mehr Bildern und weniger Buchstaben. Was genau ist daran ein Verlust? Eine Ahnung bekommt man, wenn man sich an den Begründer neuzeitlicher Buchkultur erinnert. Zwar hatte Johannes Gutenberg den Buchdruck schon eine Generation zuvor erfunden, aber erst Martin Luther gab dessen Presse die passenden Inhalte und die mediale Wucht. Er wusste sie viel prägnanter und erfolgreicher zu nutzen als seine "altgläubigen" Gegner, die mit dem damals neuen Medium so fremdelten wie viele heutige Kirchentheologen mit dem Internet. In einem schmalen, gut lesbaren und reizvoll illustrierten Buch erzählt der Göttinger Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann nun Luthers Biographie als Bibliographie ("Martin Luther als Publizist". Eine biographische Studie. Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2025, 186 Seiten, 22,- Euro).
Dadurch gewinnt man ein überraschend plastisches Bild des Reformators und muss zugleich an vielen Stellen über heutige Mediennutzung nachdenken. Eigentlich alles, was Luther tat, hatte mit Büchern zu tun: Er las, schrieb, übersetzte, dichtete, sammelte, korrigierte, publizierte, verkaufte und reagierte auf positive oder negative Resonanzen. Das hatte er nicht geplant. Ein Schriftsteller wollte er ursprünglich nicht werden. Seine publizistische Karriere begann absichtslos und unstrategisch mit dem Lesen eines Buches. Mit zwanzig Jahren hatte er zum ersten Mal eine Bibel in die Hand bekommen. Er las und las sie wieder und wieder. Nein, er "klopfte", "pochte" bei ihr an, "stürmte" sie an. Denn er suchte in ihr sein Heil. Wie von selbst wurde er dabei zu ihrem Ausleger, und seine Auslegung führte zum Umsturz der damaligen Welt.
Den Gipfel als Autor erreichte Luther in seinem "Wunderjahr" 1519/20. Begeistert von seinen Einsichten, verfasste er dreiundzwanzig deutsche und zehn lateinische Schriften. Er schrieb aber auch um sein Leben, denn die publizistische Popularität schützte ihn vor den Todesdrohungen der Papstkirche. Es folgte ein Meisterwerk nach dem anderen: von der "Freiheit eines Christenmenschen" bis zur "Babylonischen Gefangenschaft". Luther entfesselte eine Revolution ohne Gewalt, nur mit der Macht des Buches. Das muss eine euphorisierende Erfahrung gewesen sein. Nebenbei machte sie aus dem kleinen Städtchen Wittenberg die für Jahrzehnte wichtigste Druckmetropole Europas.
Luthers publizistischer Initialerfolg, den keiner der großen Schriftsteller der Moderne je übertreffen sollte, war - wie der unvergessene Martin Warnke gezeigt hat - nicht nur eine Sache von Buchstabe und Geist, sondern auch mit einer innovativen Bildpolitik verknüpft. Man könnte auch von einem evangelischen Bilderkult sprechen. Besonders nach seinem Auftritt beim Reichstag von Worms wurde Luther zur bis dahin am häufigsten porträtierten Person der Menschheitsgeschichte. Das war effektive Propaganda und eine Entfremdung. Denn über den realexistierenden Reformator legte sich ein Avatar: die Ikone eines protestantischen Übermenschen.
Danach folgte - kurz gesagt - zweierlei. Zum Einen machte Luther sich an zwei Großprojekte, denen er viele Jahre sorgfältiger Arbeit widmen sollte: der Übersetzung der Bibel und der "Postille", einer Sammlung von Musterpredigten, die er für sein "aller bestes buch" hielt. Zum anderen stürzte er sich in zerstörerische Schreibkriege. Wie ein Zauberlehrling hatte er Dynamiken entfesselt, die er nicht beherrschen konnte. Viele Autoren hatten sich von ihm inspirieren lassen, dann aber eigene Bücher geschrieben, die in andere Richtungen führten. Nicht zuletzt wegen dieses Kontrollverlusts kämpfte Luther mit der "Bauernaxt", wie er sagte, gegen Papstanhänger, Bauernbefreier, Schweizer Reformatoren, Türken und Juden. Seine publizistische Aggressivität kannte kein Maß. Sie beschädigte sein Ansehen und seine Sache nachhaltig. So gehören auch Tragik und Schuld zu Luthers bibliographischem Leben.
Damit führt die Erinnerung an diese ferne Geschichte, mit der die neuzeitliche Buchkultur begann, in die mediale Gegenwart mit ihrer krassen Zwiespältigkeit. Damals entstand der schöne Glaube, der heute noch seine Anhänger hat, dass die Wahrheit sich durchsetzen wird, wenn sie gedruckt und in Büchern vertrieben werden kann. Zugleich musste man damals - wie heute - darüber erschrecken, was kommunikative Gewalt in neuen Medien anzurichten vermag. JOHANN HINRICH CLAUSSEN
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