Besprechung vom 09.04.2025
Sie gewähren sich ein Ohr
Und hatten wenigstens stets Doktoranden, aber nicht immer Geld bei sich: Als caesarische Ethnographen hören Ewald Frie und Boris Nieswand in ihren Tübinger Sonderforschungsbereich hinein.
Am Schluss rückt der Abrissbagger an und räumt das Gebäude ab, in dem der Sonderforschungsbereich mit der laufenden Nummer 923 und dem Namen "Bedrohte Ordnungen" 2011 seine Arbeit aufgenommen hatte. Ist das ein Sinnbild für das, was von geisteswissenschaftlicher Verbundforschung bleibt? Ganz gewiss nicht, auch wenn gegen Ende einer solchen Unternehmung die Fliehkräfte zunehmen und insbesondere die Doktoranden und die Postdocs zu neuen Ufern aufbrechen (müssen). Ewald Frie und Boris Nieswand präsentieren in einem glänzend geschriebenen Buch "Innenansichten geisteswissenschaftlicher Forschung" - so der Untertitel.
Erschienen ist es bei C. H. Beck (München 2024. 172 S., 2 Diagramme, geb., 29,90 Euro), dem Verlag, der sein Renommee als sogenannter Publikumsverlag mit der Verbreitung der Ergebnisse geisteswissenschaftlicher Forschung erworben hat und bewahren möchte. Der Titel nennt mit der "Keplerstraße 2" die Adresse des Gebäudes in Tübingen, in dem der 2023 ausgelaufene Sonderforschungsbereich die längste Zeit untergebracht war. Auch die architektonischen Peripherien von Forschung sind nicht unwesentlich, und so laden die Autoren die Leser gleich zu Beginn zu einer Tour durch Tübingen ein: Universitätsgeschichte ist auch Stadtgeschichte.
Diesseits der Unterrichtung einer größeren Öffentlichkeit über wesentliche Ergebnisse der konkreten Ordnungsforschung liefert die Monographie, wie sicherlich alle, die an einem solchen Projekt einmal beteiligt waren, bestätigen werden, in exemplarischer Weise authentische Einblicke durch eine "ethnografische und mikrohistorische Perspektive auf Praxisfelder" geisteswissenschaftlicher Arbeit. Gegenüber einem Zugriff aus historischer Distanz, wie er in der breit rezipierten Monographie "Geistesarbeit" von Steffen Martus und Carlos Spoerhase vorliegt (F.A.Z. vom 23. September 2022), handelt es sich hier um die eine Beobachtung von Teilnehmern, die durch die Innenperspektive Aufschluss über die sozialen Komponenten geisteswissenschaftlicher Arbeit verspricht.
Eine solche Offenheit kann sich freilich nur erlauben, wer sich zwölf Jahre (dies ist die maximale Förderdauer für Sonderforschungsbereiche seit 2002: dreimal vier Jahre können bewilligt werden) erfolgreich behauptet hat. Entsprechend berichten Frie und Niewald in der dritten Person über sich, gewissermaßen wie einst Caesar nach erfolgreichen Schlachten in seinen "Commentarii de bello Gallico". Anders als ein antiker Feldherr sparen die Autoren Peinlichkeiten nicht aus. So wurde nach der Begrüßung der Gutachter vor der ersten Begehung - einer vor Ort stattfindenden Begutachtung des Antrags durch von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) bestellte Wissenschaftler - von den beiden Sprechern, also Leitern, des Verbunds vergessen, im Restaurant zu bezahlen. Ein DFG-Vertreter "zahlte die Zeche der beiden SFB-Sprecher später aus eigener Tasche". Begehungen werden minutiös vorbereitet, und doch kann es zu solchen misslichen Situationen kommen, die in diesem Fall aber ohne negative Konsequenzen blieben.
Geisteswissenschaftliche Verbünde finden sich für Forschung zusammen, die durch ein gemeinsames Frageinteresse angeregt wird. In besonderer Weise stimuliert wird dieses durch ein "Catchword", das - möglichst formal definiert - unterschiedliche historische Fälle vergleichbar werden lässt. Hier eben: "Bedrohte Ordnungen", in der Nachbarschaft zum Beispiel "Helden - Heroisierungen - Heroismen". Der Verbund arbeitet an Begriffen und Kategorien, um ausgehend von dem "Anregungscharakter der Bezeichnung" zu generalisierbaren Einsichten zu gelangen. Dies geht nicht ohne Konflikte, wie die witzigen Berichte über das "Forschungsdesign" zeigen. Frie gibt eine frühe Überlegung aus dem Jahr 2009 preis: "Man könnte ein Design nach Art des Tübinger Bio-Müllsacks bauen. Das ist ein Müllsack, der den Müll zunächst zusammenhält, sich aber nach 5 Tagen auflöst. Wir könnten den SFB in einer von Bedrohungstypen gebauten Struktur beginnen, die wir wegen der Offenheit unseres Forschungsziels brauchen. Diese Struktur wird sich am Ende der ersten Förderperiode zugunsten einer neuen Struktur auflösen, die dann von den Ordnungen aus gebaut ist."
Die charmante Bio-Müllsack-Idee wird vor allem Wissenschaftlern der historischen Geisteswissenschaften einleuchten. Sie gehen von Einzelfällen aus und tun sich notorisch schwer mit abstrakten Modellen, wie sie Sozialwissenschaftler favorisieren. Die Autoren - ein Historiker und ein Soziologe - zeichnen die entsprechenden Konflikte nach und weisen auch darauf hin, dass gefundene Kompromisse nicht für alle befriedigend waren. So entschied man sich, auf eine heuristische Ordnungstypologie zu verzichten, was einige Sozialwissenschaftler enttäuschte. Die Verhandlungen zwischen systematisch orientierten und historisch interessierten Wissenschaftlern sind besonders produktive Momente interdisziplinärer Zusammenarbeit.
Über die eigenen Erinnerungen hinaus haben die Autoren auch eine Vielzahl von Stellungnahmen unterschiedlicher Personen berücksichtigt - von den Doktoranden über die Postdocs bis hin zu den (in der Regel) professoralen Leitungen der Teilprojekte. Neben einer guten Verwaltung tragen insbesondere Doktoranden und Postdocs mit ihrer empirischen Arbeit zum Gelingen eines Verbundprojekts bei. Und auch wenn die jüngeren Forscher immer nur temporär, meistens für die Dauer einer Förderphase, also für vier Jahre, Teil des Verbunds sind, möchten sie nicht nur ihre eigenen Studien vorantreiben, sondern Teil des großen Ganzen sein. Deshalb ärgern sich Doktoranden, wenn der Gesamtverbund am Ende einer Förderphase nur nach vorn blickt. Im Zusammenhang der durch ein törichtes Filmchen des Bundesbildungsministeriums angestoßenen Debatte "#IchbinHanna" melden die Autoren berechtigte Zweifel daran an, dass die geltende Befristungsregel im Bereich von "Wissenschaftlern in frühen Karrierephasen" (wie man euphemistisch neuerdings zu sagen hat) wirklich zielführend ist.
Die konkreten Arbeiten tragen übrigens auch dann zum Erkenntnisgewinn bei, wenn sich Hypothesen nicht bestätigen. So untersuchten Chelion Begass und Johanna Singer "die Bedrohung des Adels durch Armut und bürgerliche Aufsteiger im langen 19. Jahrhundert". Allerdings mussten sie feststellen, dass Adlige zwar verarmten, dies aber anders als in der Weimarer Republik hinnahmen. "Im Gegensatz zu den 1920er Jahren organisierten sich Adlige nach den Napoleonischen Kriegen, obwohl in mindestens ähnlicher Weise mit verheerenden Kriegsfolgen und individueller Perspektivlosigkeit konfrontiert, nicht in systemablehnenden Organisationen. Sie entwickelten keine Bedrohungskommunikation, sondern aktivierten die schwachen Netzwerke, über die sie noch verfügten, und schrieben Bittbriefe." Auch wenn das Teilprojekt in der folgenden Förderphase aufgrund dieser Ergebnisse nicht fortgeführt wurde, zählt die Arbeit von Johanna Singer zu den besonders intensiv rezipierten: Mit neun Rezensionen ist sie "Spitzenreiterin" unter den Publikationen des Sonderforschungsbereichs.
Die Autoren legen ihre Gedanken dazu vor, welche Wirkung Sonderforschungsbereiche haben. Es ist nicht neu, zu fragen, inwiefern durch Verbundprojekte weithin sichtbare Marksteine gesetzt werden. Das Buch gibt eine entspannte Antwort. Die durch die gemeinsame Fragestellung stimulierte Forschung wirkt in die beteiligten Disziplinen hinein; generelle Einsichten können durchaus auch für die Gesellschaft relevant sein, wie die mit dem Jahr 2015 verstärkt einsetzenden Pressenachfragen zeigen. Eine Gesellschaft, die ihre "Ordnungen" auf einmal "bedroht" sahen, konnte auf geisteswissenschaftliche Expertise zurückgreifen, die in Ruhe und reflexiver Distanz zur Aktualität aufgebaut worden war.
Ewald Frie war zuvor mit dem Überraschungsbestseller "Ein Hof und elf Geschwister" hervorgetreten, einer familienautobiographischen Fallstudie, in der er den "stillen Abschied vom bäuerlichen Leben in Deutschland" beschrieben hat. Mit dem nun gemeinsam mit Boris Nieswand geschriebenen Buch wirft er wieder einen Blick zurück. Das Buch zeigt aber, dass geisteswissenschaftliche Sonderforschungsbereiche zweifellos ein Format der Zukunft sind. MAXIMILIAN BENZ
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