
Besprechung vom 17.11.2025
Unendlich größer und rascher als ein Walfisch
Vom sonderbaren Reiz, im 21. Jahrhundert der originalgetreuen Lesung eines Romans von Jules Verne zu lauschen
Auf den einschlägigen Streamingplattformen für Hörbücher ist Jules Verne überaus präsent. Die ARD-Audiothek hat immer mindestens eine große Lesung seiner Romane und mehrere Hörspiele im Angebot. Audible hat die bekanntesten Romane exklusiv einsprechen lassen und verzeichnet Dutzende weitere Produktionen. Die Liste bei Spotify ist ebenfalls lang - darauf die vorbildlich beschwingte Lesung des Romans "Reise um die Erde in achtzig Tagen" von Rufus Beck, der in Deutschland der eifrigste Verne-Interpret ist.
Vernes große Präsenz ist dabei einerseits nicht besonders überraschend. Er ist der meistübersetzte französische Autor, ein Klassiker der Jugendliteratur, seine Werke wurden vielfach vertont, illustriert, auf die Bühne gebracht und verfilmt, zuletzt vor wenigen Jahren "Reise um die Erde" mit David Tennant. Dennoch kann man sich wegen des ursprünglich bildungsvermittelnden Ansatzes seiner Bücher, in denen zahlreiche naturwissenschaftliche Entdeckungen des 19. Jahrhunderts erklärt werden - viele Fakten sind inzwischen veraltet -, die Frage stellen, wie zeitgemäß sie noch sind.
Vom Cbj Audio Verlag gibt es jetzt eine neue, auf diversen Plattformen abrufbare Lesung des Romans "20.000 Meilen unter den Meeren" von Charly Hübner, die kurioserweise in zwei Versionen vorliegt, einer 14 Stunden langen ungekürzten und einer um vier Stunden reduzierten "für die ganze Familie", die auch als CD erscheint. Für Kinder und Jugendliche gab es zuletzt vor allem stark gekürzte Hörspielfassungen des Romans mit einer Länge von ein bis zwei Stunden. Beim Hineinhören in diese Kurzversionen muss man jedoch feststellen, dass sie als verdichtetes, die Spannung forcierendes Unterwasserabenteuer eher veraltet wirken, allein weil die Tiefsee und eine damals visionäre Unterwassertechnik heute nicht mehr so spektakulär sind wie im 19. Jahrhundert. Selbst die ambitionierte, in der ARD-Audiothek abrufbare Hörspielfassung von Walter Adler, mit Gottfried John, entkommt diesem Dilemma nicht. Der bleibende Reiz von Jules Verne muss in etwas anderem liegen als dem Abenteuer allein.
Sperrig, aber rhythmisch soghaft beginnt der Roman "20.000 Meilen unter den Meeren": "Ein seltsames Ereignis, ein unerklärtes, und eine unerklärbare Naturerscheinung, die sich im Jahr 1866 begab, ist ohne Zweifel noch unvergessen." Das Letzte stimmt natürlich nicht. Das Ereignis - ein zerstörerisches Etwas, das große Schiffe auf den Weltmeeren aufspießt - hat es nie gegeben, Verne beginnt hier sein ironisches Spiel mit dem Leser um Fakten und Fiktionen. Ähnlich herausfordernd wie in der "Etymologie"-Einleitung des "Moby-Dick" folgen theoretische Exkurse des Erzählers Professor Aronnax über Meerestiere. Handelt es sich bei der Naturerscheinung um einen riesigen Narwal oder um eine noch unbekannte Maschine? Der Leser und Hörer lernt bei Aronnax vieles über Logik, Längenmaße und Fischgattungen, sein Horizont wird erweitert. Es könnte aber auch alles sachlich falsch sein, ohne dass es der Wirkung des Romans einen Abbruch täte.
Verne liebt Zahlen und Klassifizierungen, zuweilen scheint er sich an nerdiger Faktenhuberei ernsthaft zu begeistern, er pflegte einen umfangreichen Zettelkasten - im nächsten Moment schüttelt er originelle poetische Bilder aus dem Ärmel. So sagt Professor Aronnax einmal über den kanadischen Harpunier Ned Land, der ihn auf der Suche nach dem vermeintlichen Killer-Narwal begleitet, welcher sich jedoch als das Unterwasserboot des piratenhaften Kapitäns Nemo herausstellt: "Ich könnte ihn am besten mit einem starken Teleskop vergleichen, das zugleich als Kanone stets schussfertig wäre." An anderer Stelle wird Ned Land von Aronnax wegen seiner lebhaften Walfangerzählungen als "kanadischer Homer" bezeichnet. Hier spricht Jules Verne aus Aronnax. Die unterhaltsame epische Ausdehnung ist auch seine Erfolgsformel. Das Universum erobert er in seinen Romanen bis zum Mond. Dabei geht es dem über mehrere Jahrzehnte vertraglich gebundenen Erfolgsschriftsteller immer auch um epischen Selbsterhalt. Großes Lob kam vom gleichaltrigen Tolstoi, der Vernes Romane als "in der Tat hervorragend" bezeichnete.
Charly Hübner nimmt Jules Vernes Spiel mit dem Leser gekonnt auf. Er lässt alle künstliche Spannungsmache beiseite und liest den Bericht des anfangs biederen, "zwischen den Stühlen" sitzenden Professors mit einem trotz aller Erschütterung derart überzeugten Brustton, dass dessen bleibende Beschränktheit zum Ausdruck kommt. Hübner, der vor Jahren in der Lesung von Agatha Christies "Der Mord an Roger Ackroyd" eine ähnlich diffizile Erzählerrolle mit gespielter Ungelenkheit meisterte, ist ein Schlitzohr wie Jules Verne, der diese ironische Lesart in der Figur des Aronnax eindeutig angelegt hat. Gleichzeitig wäre der Roman ohne die zuweilen absurd wirkende Wissbegier des Professors undenkbar. Viele von Vernes Romanen sind ein Spiel um Glaubwürdigkeit in der Fiktion. Verne hält die Leser mit seinem Stil in Schach, Hübner die Hörer mit einem Ton, der gebrochene Autorität ausdrückt. UWE EBBINGHAUS
Jules Verne: "20.000 Meilen unter den Meeren".
Gelesen von Charly Hübner. Cbj Audio, München 2025. 14 Std., Download, 25,95Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.