Eine pulsierende Stadt, ein überforderter Meisterdieb + Gang -und Intrigen, die ständig explodieren. Camorr lebt - mal glitzernd mal dreckig
Meine Eindrücke & GefühleDieses Buch versucht nicht, einer großen Leserschaft zu gefallen. Entweder es entspricht deinem Beuteschema - oder du musst die Fähigkeit haben, dich außerhalb deiner Vorlieben auf etwas einzulassen. Bei mir war es Letzteres. Man muss dem Buch zugutekommen lassen, dass es inzwischen rund 20 Jahre alt ist. Es nimmt sich Zeit, "alles in Position zu bringen und auszuleuchten", bevor es richtig losgeht. Ich mag das.Auf den ersten 100 Seiten war mir klar: Das ist ein "Männerbuch". Was soll ich sagen - ich lese seit den 80ern Fantasy, und da war die Mehrzahl der Bücher so. Wenn man sich darauf einlässt (und das habe ich), bekommt man ein sehr gutes Buch innerhalb dieses Genres.Was fehlt: tiefe Einblicke in die Gefühls- und Gedankenwelt der Charaktere. Aber man findet vieles im Verhalten und Agieren wieder - man muss es nur herauslesen, es steht nicht explizit da. Auch das mag ich.Außerdem fehlen glaubhafte weibliche Figuren. Es gibt ein paar coole Frauen, wie die Haifisch-Zwillinge, aber sie könnten genauso gut Männer sein.Also: Es ist nicht mein Beuteschema, aber innerhalb seines Schemas hat es mich überzeugt. Scott Lynch wirft einen mitten hinein in eine Welt, die so schillernd, dreckig, brutal und gleichzeitig wunderschön beschrieben ist, dass man sich fühlt, als würde man durch die Gassen von Camorr stolpern - meist verfolgt, manchmal lachend, häufig schockiert. Ich hatte ständig Angst, als Leser gleich wieder "eine aufs Maul zu bekommen".Die Charaktere sind facettenreich, auch in ihren unsympathischen Seiten. Identifizieren kann man sich nie richtig mit ihnen - und ich halte das für gewollt. Lynch jongliert geschickt damit, Figuren immer wieder so unsympathisch zu machen, dass man automatisch einen Schritt zurücktritt. Diese Ambivalenz muss man aushalten können.Mich hat besonders die explizite Gewalt ohne Reue und die extrem vulgäre Sprache abgeschreckt - wobei ich oft lachen musste,weilsie so vulgär war.Der Ton ist frech, clever und überraschend emotional. Und Locke selbst? Ein hochbegabter, unerträglich großspurig-charmanter Trickbetrüger, dem man einfach beim Untergehen und Triumphieren zuschauen will. Ich fand es erfrischend, dass er - anders als bei Ocean's Eleven - nicht jederzeit alles im Griff hat. Nein, einiges geht schief. Richtig schief. Er muss oft improvisieren.Dieses Buch hat mich mehrfach laut lachen lassen, nur um mir dann plötzlich die literarische Faust in den Magen zu schlagen.Den Titel finde ich nicht gelungen. Etwas mit "Gentleman-Ganoven von Camorr" hätte besser gepasst, denn es geht nicht nur um Locke - sondern um die ganze Gruppe, ja sogar um die ganze Stadt.2. Stärken¿ Weltbau, bei dem man die Seiten schmeckt: Camorr ist keine Kulisse - es ist ein Charakter. Die Stadt lebt, stinkt, glitzert, beißt. Jede Gasse, jedes Versteck, jeder Palast wirkt eigen und plastisch. Man ist mittendrin.¿ Cleveres, bissiges Writing: Scott Lynch schreibt Dialoge, bei denen man sich wünscht, selbst nur halb so schlagfertig zu sein. Sarkastisch, klug, manchmal herzzerreißend - perfekte Mischung.¿ Figuren, die man lieben und fürchten kann: Locke ist ein Highlight - aber Jean? JEAN?! Herz. Augen. Alles.Die Charaktere sind durchweg toll gestaltet, und die Beziehungen zwischen ihnen sind liebevoll und warm geschrieben. Sie wachsen einem ans Herz - und dann wird es herausgerissen. Auch die Nebenfiguren wirken nie blass. Selbst die Bösen sind fasziniert böse.Hach, irgendwie wie: "Der Herr der Diebe" mit seiner Gang (ohne Wespe) für Erwachsene und mit "Oceans Eleven"-Vibes.¿ Plot-Twists zum Reinbeißen: Man glaubt, man wüsste, wohin es geht - und dann zieht das Buch einem den Teppich weg, wirft eine Bombe hinterher und man denkt:"WTF... nicht dein Ernst... oder?"¿ Humor + Härte = perfekte Balance: Kaum ein Buch schafft es, gleichzeitig so brutal und so unfassbar lustig zu sein, ohne tonal auseinanderzufallen. Dieses hier schafft es.¿ Worldbuilding jenseits der Stadt: Nicht nur Camorr wirkt wie ein Charakter. Die Welt dahinter ist groß: andere Länder, politische Strukturen, Historie, Magie (wenn auch spät), Alchemie, Fabelwesen. Ich hoffe im zweiten Teil mehr davon zu sehen - Teil 1 spielt fast ausschließlich in der Stadt.Schwächen¿ Der Einstieg ist... sagen wir episch: Viele Infos. Viel Welt. Vieles versteht man erst später. Man braucht Geduld - und vielleicht ein Lesezeichen zum Luft holen.¿ Zeitsprünge: Gelungen, aber nicht immer elegant.Manchmal wirkt es wie: "Ach übrigens, zehn Jahre vorher war auch Chaos." Immer wenn es spannend wurde, kam ein Rückblick in die Kindheit. Die Sprünge sind emotional begründet und helfen, Entscheidungen zu verstehen - aber sie können nerven.¿ Nicht zimperlich: Das Buch ist brutal. Emotional und körperlich. Wer empfindlich auf Gewalt reagiert, sollte Camorr nicht als Reiseziel wählen.¿ Kaum weibliche Hauptrollen: Es gibt Lockes verflossene Liebe und am Ende eine mächtige Frau auf Seiten des Gesetzes. Mir fehlte weibliche Präsenz im Team und Umfeld. Die interessanten Frauen sterben alle - gut, viele Männer auch. (Und wie sehr hätte ich mir gewünscht, dass die Zwillinge und die anderen Zwillinge... ach egal. Kein Spoiler.)Charaktere (spoilerfrei)¿¿¿¿ Locke Lamora: Meisterdieb. Lügengenie. Katastrophenmagnet. Der Kopf der Bande: genial, impulsiv, moralisch flexibel - aber mit Kodex. Kein Held, aber hochinteressant.¿¿¿ Jean Tannen: Lockes bester Freund. Sanft wie ein Kater, tödlich wie ein Schmiedehammer. Das Herz der Bastards - und gleichzeitig jemand, der im Kampf keinerlei Zurückhaltung kennt.¿¿¿¿¿¿¿ Die Gentlemen Bastards: Eine chaotische, loyale Diebesfamilie voller Macken und Talent für völligen Unfug.¿¿¿¿ Der Graue König: Ein Bösewicht, der hängen bleibt. Furchteinflößend und faszinierend. Ein echter "Moriarty"-Typ.HörbuchfassungWeil das Buch seine Längen hat, bin ich ab ca. Seite 120 aufs Hörbuch umgestiegen - und war froh darüber.Matthias Lühn ist ein sehr erfahrener Sprecher. Seine Stimmvielfalt ist großartig, weibliche Stimmen klingen nicht lächerlich, und den Humor trägt er hervorragend.Ehrlich gesagt konnte ich im Hörbuch besser über den Witz lachen - er arbeitet ihn wunderbar heraus.Fazit & EmpfehlungDie Lügen des Locke Lamorra ist ein brillant geschriebenes, atmosphärisch dichtes Fantasy-Epos voller Humor, Herz, Schmerz und meisterhafter Intrigen.Für mich ein 4-5 ¿¿ Buch.Perfekt für alle, die:¿ clevere Diebesgeschichten lieben¿ scharfzüngige Dialoge brauchen¿ dunkle, detailreiche Welten mögen¿ Charaktere wollen, die facettenreich, schwer zu fassen und schwer zu vergessen sind¿ Plot-Twists feiern, die wirklich überraschenNicht ideal für Leser, die:¿ glaubhafte weibliche Charaktere in Hauptrollen mögen¿ empfindlich bei Gewalt sind¿ einen ruhigen, geradlinigen und zügigen Plot bevorzugen¿ einfache Sprache oder leichtes Worldbuilding möchten¿ Gefühle explizit erklärt statt nur angedeutet brauchen.Diesmal gibt es nur 4 ¿¿, weil mir als Frau die Frauen fehlen. Aber sonst: ¿¿¿¿¿¿¿¿¿¿