Solide Unterhaltung, die jedoch wenig düster, sondern eher abenteuerlastig ist.
Eine Pandemie dürfte hautsächlich mit negativen Gedanken behaftet sein. Aber wie so oft im Leben, birgt auch der größte Schatten eine Lichtquelle, aus dessen abgewandter Seite dieser ja entsprungen sein muss - und sei es aus einem Funken Hoffnung.Der Roman "Reykjavík" ist ein derartiges Beispiel. Hätte es die Corona-Zwangspause nicht gegeben, wäre dieser Kriminalroman nach Aussage seiner beiden Autoren womöglich nicht entstanden. Dabei handelt es sich bei diesem Duo nicht um irgendjemanden. Hier haben sich zwei gefunden, die nach eigenem Bekunden ihre Leidenschaft zu klassischen Krimis á la Agatha Christie, zu Islands Gesellschaftswandel und ihre nostalgischen Sehnsucht für die Achtziger teilen - obwohl sie durchaus gegenteilige Auffassungen persönlicher Überzeugungen pflegen. Gemeint sind der Bestseller-Autor der Hulda-Trilogie Ragnar Jónasson und die gleichaltrige, seit 2017 amtierende isländische Premierministerin Katrín Jakobsdóttir!Reykjavík ist also ein Experiment, das gemeinsame Interessen zweier illustrer Persönlichkeiten zu einem schriftstellerischen Ergebnis bündelt. Der gewählte Plot ist betont klassisch für einen skandinavischen Noir: ein verschwundenes Mädchen, eine kleine, spärlich bewohnte Insel (hier die Reykjavík vorgelagerte Insel Videy) und jahrzehntelange Ungewissheit. Die Folge: Ängste, Bangen, Grusel, Verzweiflung. So nimmt die Geschichte auch rasch an Fahrt auf. Das auslösende Ereignis passiert 1956. Der ermittelnde Polizist geht den wenigen Spuren nach - ohne Erfolg. In Abschnitten jeweils einer Dekade treffen wir im Jahr 1986 auf einen begabten Investigativjournalisten, sein Name Valur, der diesem Vermisstenfall neue Impulse gibt. Unterstützt wird er von seiner Schwester Sunna, die sich mit ihrer Magisterarbeit im Fach Literaturwissenschaft schwertut (ein offenbar autobiographischer Wink der Mitautorin, die über den wohl populärsten Isländer Indriðason reüssierte). Nach und nach werden neue Details enthüllt, Verdächtige aufgespürt und das Rätsel seiner Auflösung zugeführt.Tatsächlich wirkt das Machwerk in seiner Gesamtheit gerade im letzten Drittel wie eine bemühte Flickarbeit verschiedener Versatzstücke, deren Ränder mit heißer Nadel vernäht worden sind. Vermutlich ahnten das auch die Autoren in ihrer Selbsteinschätzung, denn bereits im Nachwort bitten sie die Leserschaft für etwaige Ungereimtheiten um Absolution.Ich fand den Krimi am Anfang und im Mittelteil sehr spannend (ohne zu wissen, ob hier der Routinier oder die Akademikerin die Feder führte), der Schluss jedoch, insbesondere die Personenzeichnungen, die gekünstelten Dialoge, die logischen Unzulänglichkeiten bezüglich der Polizeiarbeit, überzeugten mich leider nicht. Dafür ist häufig die sentimentale Liebe zu Island zu spüren, wie es früher einmal war, wie es sich über die Jahre entwickelt hat (nicht immer zum Guten) und wie es hätte sein können. Manchmal fühlte ich mich in ein Enid-Blyton-Abenteuer hineinversetzt: wenige "darke" Momente, dafür viel Taschenlampengefunzel wie durch Kinderhände."Reykjavík" ist auf jeden Fall ein außergewöhnlicher, unterhaltsamer Roman, der unverblümt mit der Prominenz der Urheber kokettiert. Trotz guter Ansätze und einer interessanten Grundidee ist dieser aus einer Pandemie heraus geborene Versuchsaufbau nicht ganz geglückt. Schade eigentlich. Mit Blick auf die dennoch solide Unterhaltung werte ich den Krimi mit wackeligen 4,5 von 5 Sternen.