Robert Menasse erklärt und verteidigt - im Jahr der Europawahl - die europäische Idee, lädt aber auch dazu ein, die systemischen Widersprüche der Union zu kritisieren und zu überwinden. Die Alternative, vor der wir stehen, ist nicht kompliziert: Entweder gelingt das historisch Einmalige, nämlich der Aufbau einer nachnationalen Demokratie, oder es droht ein Rückfall in das Europa der Nationalstaaten. Das wäre eine weitere Niederlage der Vernunft - mit den Gefahren und Konsequenzen, die uns aus der Geschichte nur allzu bekannt sein sollten.
In Die Welt von Gestern schildert Stefan Zweig das kosmopolitische Europa vor 1914. Als er seine Erinnerungen niederschreibt, existiert es nicht länger, »weggewaschen ohne Spur« von der faschistischen Barbarei. Zweig stirbt 1942. Aber das übernationale Europa bekommt nach 1945 eine zweite Chance. Visionäre stoßen ein epochales Friedensprojekt an, Grenzen fallen, der Nationalismus weicht der Kooperation.
Doch auch dieses Projekt könnte schon bald Geschichte sein. Demokratische Defizite führen zu Protest. Mannigfaltige Krisen machen den Menschen Angst. In vielen Mitgliedstaaten schüren Politiker, die von den Erfahrungen der Gründer nichts mehr wissen (wollen), einen neuen Nationalismus. Heute steht Europa wieder am Scheideweg. Wie wird die Welt von morgen aussehen?
»Die Lehren aus der Geschichte und unsere zeitgenössischen Erfahrungen führen zum selben Schluss: Nur eine gemeinsame transnationale Politik kann eingreifen, kann gestalten und ordnen, was ansonsten Zerstörung, Verbrechen und Misere produziert. «
Besprechung vom 17.09.2024
Die EU als Vielvölkerstaat
Robert Menasse konzentriert sich in seinem neuen Buch auf den Nationalismus und neue Spielarten der Demokratie in Europa. Gegenwärtige Gesellschaften, beobachtet der Autor, hätten keine politischen Visionen mehr, auf die sie hinarbeiten. Lösungsvorschlag: die EU als "Vielvölkerstaat", der in Regionen untergliedert ist. Als historische Folie dient ihm das Habsburgerreich. Die Kapitel springen, ohne einem thematischen Bogen untergeordnet zu sein, von einem Aspekt zum nächsten. Dabei bedient sich Menasse einer betont lässigen Sprache, er stellt plakative Fragen ("Es soll Zeiten gegeben haben, da beruhte Kritik auf Analyse, ihr Besteck war Theorie und Methode. Weiß das niemand?") und behauptet Dinge auf Grundlage anekdotischer Evidenz (italienische Fußballfans sollen zum Beispiel, anders als deutsche, keine nationalistischen Tendenzen aufweisen). Da hilft es nicht viel, dass zwischendurch immer wieder triftige Feststellungen aufblitzen, etwa jene, die politische Rechte werde vor allem von der Mitte und nicht von den Rändern getragen.
Hinzu kommt die gedankliche Unschärfe. So skizziert Menasse zunächst seinen Wohnsitz im österreichischen Waldviertel, um dann zu schildern, wie er dort bei der Gartenarbeit eine Kröte erschlagen hat. Mit dieser Anekdote möchte er die Eigenarten sozialer und politischer Ängste aufzeigen, wobei dem Leser eher solche Einlassungen auffallen: "Aber darauf wollte ich jetzt gar nicht hinaus." Dass dem Essay Potential innegewohnt hätte, zeigt Menasse, wenn er auf konkrete Missstände im Zusammenhang mit der EU hinweist, sowohl auf institutioneller Ebene wie auch im Selbstverständnis, das sich im Reden über die Union manifestiert. Solche Passagen werden jedoch vom Ballast der Anekdoten und Exkurse erstickt. ROBIN PASSON
Robert Menasse: "Die Welt von morgen". Ein souveränes demokratisches Europa - und seine Feinde.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024.
192 S., geb.
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