
Besprechung vom 12.11.2025
"Männer wollen uns kleinhalten"
Sanna Marin rechnet in ihren Memoiren mit alten Rollenmustern ab - ihr Buch dreht sich dabei vor allem um sie
Ihr seien derart häufig Vergewaltigungen und andere Arten sexueller Gewalt angedroht worden, dass sie es gar nicht mehr zählen könne. Immer wieder seien die Kompetenzen und Führungsqualitäten von ihr und ihren Mitstreiterinnen infrage gestellt worden, ohne jede Begründung. Sie seien "Mädchen-Regierung" genannt worden.
Das schreibt Sanna Marin in ihren Memoiren, die gerade erschienen sind. Als sie im Dezember 2019 mit 34 Jahren ihr Amt als finnische Ministerpräsidentin antrat, war sie die jüngste Regierungschefin der Welt. Die Sozialdemokratin führte ein Bündnis mit vier anderen Parteien, die alle ebenfalls von Frauen geleitet wurden. 15 von 19 Ministerien wurden von Frauen geführt. Während der gesamten Amtszeit sei die Regierung mit Frauenhass und Sexismus konfrontiert worden, so Marin in ihrem Buch "Hope in Action - Die Zukunft gehört uns". Demnach hätten sie Spitznamen wie "Lippenstift-Regierung" erhalten. All das zeige: Selbst in Ländern wie Finnland mit höchsten Werten bei der Gleichstellung seien Frauen weiter von Doppelmoral betroffen.
Marin war von 2019 bis 2023 Ministerpräsidentin Finnlands. Vor allem im Ausland wird sie im linken Spektrum verehrt, gilt als Ikone einer jungen, progressiven Führungsgeneration, als Vorreiterin in Sachen Gleichberechtigung und Umweltschutz. Nach ihrem Ausscheiden aus der finnischen Politik erhielt sie auch in Deutschland einen Preis für ihr Lebenswerk. Doch in Finnland ist ihre Bilanz umstrittener. Ihre Amtszeit war schwierig, geprägt von der Corona-Pandemie, in der nicht alles glatt lief, und von Russlands Angriffskrieg, in dessen Folge Finnland rasch der NATO beitrat. Für Kritik sorgt heute auch, dass unter Marin die Staatsverschuldung massiv von rund 59 auf 77 Prozent des Bruttoinlandsprodukts anstieg. Umfangreiche Kürzungen auch im Sozialbereich unter der Nachfolgeregierung sind nun die Folge.
In ihrem Buch geht Marin ausführlich auf ihre eigene Lebensgeschichte ein. Wenn ihre Geschichte Bedeutung habe, dann deswegen, "weil sie zeigt, was in Bewegung gerät, wenn man sich weigert, das Falsche zu akzeptieren", so Marin in der Einleitung. Später beschreibt sie ihre Kindheit in armen Verhältnissen bei einer alleinerziehenden Mutter in der Nähe von Tampere, die Zeit in der Kommunalpolitik in der drittgrößten Stadt des Landes bis hin zur Vorsitzenden des Stadtparlaments sowie den rasanten Aufstieg an die Spitze der Sozialdemokraten. Sie habe früh gelernt, dass die Umstände der Geburt nicht über den Verlauf des Lebens bestimmen sollten, so Marin. Warum sie Politikerin werden wollte? "Ich wollte Macht." Daran sei nichts falsch, sie wollte schließlich etwas bewirken - und Männer beanspruchten Macht frei heraus.
Ausführlich geht Marin auf Schwierigkeiten während ihrer Amtszeit ein. Das betrifft die Pandemie, das Aufwachen in einem Europa im Krieg, vor allem aber betrifft es mehrere Skandale rund um ihre eigene Person. So erregte ein Video auch außerhalb Finnlands Aufmerksamkeit, das Marin bei einer Party zusammen mit Freunden zeigt, ausgelassen tanzend. Weiter gab es Aufregung um das Foto zweier Frauen, die sich bei einer Party in Marins Ministerpräsidentenresidenz küssten. Die Wochen danach seien die "schlimmsten im Amt", der mediale Druck sei enorm gewesen, so Marin. Sie rechtfertigte sich damals öffentlich mit den Worten: "Ich bin ein Mensch." Auch sie selbst brauche "in diesen dunklen Zeiten etwas Spaß, Leichtigkeit und Ablenkung".
Am Rande geht Marin auch auf Treffen mit anderen internationalen Spitzenpolitikern ein, etwa auf eines mit Angela Merkel im Oktober 2021 in Berlin - also rund vier Monate vor Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Da habe sie die damalige Bundeskanzlerin sehr besorgt und anscheinend von Wladimir Putin sowie von Russland "zutiefst enttäuscht" erlebt, so Marin. Doch vertiefte Einblicke in das schwierige politische Ringen Europas gegen den russischen Aggressor gibt Marin nicht. Erstaunlich, schließlich hat man in Finnland aufgrund der eigenen leidvollen Erfahrungen und der mehr als 1300 Kilometer langen gemeinsamen Grenze mit Russland meist einen sehr klaren Blick auf die Dinge. Doch Leser, die auf Inneneinsichten in die Mechanismen der internationalen Politik hoffen, enttäuscht Marin. Sie sollten vielleicht eher zum Buch des früheren NATO-Chefs und norwegischen Ministerpräsidenten Jens Stoltenberg greifen. Er gibt seitenweise Überraschendes preis, etwa von Treffen mit Donald Trump und Merkel, und er präsentiert sich selbst mit großer Zurückhaltung und macht Zweifel öffentlich.
Zweifel gibt es bei Marin kaum, ihr Buch dreht sich vor allem um sie selbst. Das Wort "ich" kommt auf den rund 320 Seiten mehr als 1000-mal vor. An einer Stelle schreibt Marin, in ihrer Laufbahn seien ihr Charakter und ihre Persönlichkeit immer wieder als Provokation gegen das Establishment aufgefasst worden. Aber: "Wir alle haben nur dieses eine Leben." Auch Frauen hätten zu 100 Prozent das Recht, sie selbst zu sein, sollten sich nicht verbiegen müssen, "um konservativen, überholten Vorstellungen zu genügen, die dazu angetan sind, uns kleinzuhalten".
Um die Stärkung von Frauen geht es der Neununddreißigjährigen vor allem. Seit ihrem Ausscheiden aus der finnischen Politik ist sie für Tony Blairs "Institute for Global Change" als Beraterin tätig. Sie sei unfassbar oft auf Alter, Geschlecht und Elternrolle angesprochen worden, so Marin - für Männer in Führungspositionen sei das undenkbar. Frauen müssten feminin, fürsorglich, sanft und anpassungsfähig sein. Ehrgeiz, Stärke und Weitblick wiederum gälten als männlich. Und wenn Frauen Führungskompetenzen besäßen, gälten sie als "fies, boshaft und unsympathisch". Dabei hätten Frauen ebenso wie Männer das Recht, klug, stark und ambitioniert zu sein. Nun, im Zeitalter der sogenannten starken Männer, gelte es, um die Gleichstellung besonders zu kämpfen. JULIAN STAIB
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