Lucy ist 20 und will auf Berge steigen. Denn nur in den Bergen fühlt sie sich frei. Aber alles sprach gegen sie. Was für eine Frau!
Lucy ist 20 und will auf Berge steigen. Denn nur in den Bergen fühlt sie sich frei. Aber alles sprach gegen sie.Heute ist Bergwandern und Bergsteigen für unzählige Menschen zugänglich. 1858 war das anders. Da begann gerade das Zeitalter des glorreichen Alpinismus. Die Ausrüstung war rudimentär, ohne Bergführer war der Sport unmöglich. Als Tochter einer reichen englischen Kaufmannsfamilie ist sie zwar mit Wohlstand, Bildung und Erziehung gesegnet, doch nirgendwo fühlt sie sich gefangener und geknebelter als an dem ihr zugedachten Platz in der englischen Gesellschaft. Das Herrenhaus, die geordneten Bahnen, die Erwartungen und die vorgezeichneten Wege lasten schwer auf der freien Seele und dem unabhängigen Geist. Sie braucht die Bewegung, die Bergluft und das Unbekannte, das in ihr ein Feuer entfacht, für das sie sich gegen alle Widerstände stemmt.Für Frauen im 19. Jahrhundert war der Bergsport nahezu unmöglich. Doch entgegen aller Widerstände hat Lucy Gletscher überquert, Gipfel erklommen, ist ihren Träumen gefolgt. Diese Freiheit war trotz der materiellen Sicherheit und der Unterstützung der Familie hart erkämpft. Es war eine Zeit, die bergsteigende Frauen als anmassend bis verdorben empfand. Und so handelte sie gegen alle Erwartungen, gegen alle Engstirnigkeit und machte das Unvorstellbare vorstellbar. In 21 Jahren besteigt Lucy Walker zahlreiche Gipfel. Zuhause ist sie eine zauberhafte Gastgeberin und charmante Gesellschafterin, doch gleichzeitig einem Extremsport nachzugehen, das widersprach allen Konventionen. Denn Frauen tun so etwas nicht. Andrea Günther nimmt uns mit in die gegensätzlichen Welten der englischen Gesellschaft und der Schweizer Berge und findet dafür einen so lebendigen und unwiderstehlichen Ton, dass ich das Gefühl hatte, mit dabei zu sein. Authentische Bergerlebnisse wechseln mit empathischen Einblicken in die Gedanken der Protagonistin. Alle Nebenfiguren sind fein ausgearbeitet und bevölkern ein Buch, das lange nachhallt. Was für eine Frau! Eine Pionierin! So stark, so liebenswert und so klug inmitten der abgrundtiefen Ungerechtigkeit ihres Zeitalters. Bemerkenswert ist neben den Geschlechterrollen natürlich auch die Tatsache, dass Lucy Kleider trug, Haut durfte sie niemals zeigen. In den schweren Stiefeln steckten mehrere Paar Socken, Blasen hatte sie ständig. Zu allem Überfluss plagt sie Rheuma im linken Gelenk, doch nichts hielt sie auf. Lucy Walker gelang am 21. Juli 1864 die Erstbesteigung des Balmhorns. Im Jahr 1866 bestieg sie als erste Frau das Wetterhorn und 1869 den Piz Bernina. 1871 stand sie als erste Frau auf dem Gipfel des Matterhorns.Die Gipfelstürmerin ist mehr als ein historischer Roman. Es ist ein Zeugnis von Mut und dem unbedingten Willen, für sich selbst einzustehen. Es ist eine Ode an die Freiheit und eine Absage an von Männern erstellte Regeln, die Frauen in Rollen zwingen, bis sie dahinter nahezu vollständig verschwinden.Ein uneingeschränkt lesenswertes Buch, das ich mit voller Begeisterung empfehle und kaum aus der Hand legen konnte!