
»Das ist also das Leben meiner Mutter gewesen, dachte ich, das Leben und das Alter einer Arbeiterin. Noch wusste ich nicht, dass ich dieser Aufzählung bald ein drittes Wort würde hinzufügen müssen. «
Eigentlich hatte Didier Eribon sich vorgenommen, ab jetzt regelmäßig nach Fismes zu fahren. Doch seine Mutter stirbt wenige Wochen nach ihrem Umzug in ein Pflegeheim in dem kleinen Ort in der Champagne. Wie in Rückkehr nach Reims wird dieser Einschnitt zum Ausgangspunkt für eine Reise in die Vergangenheit. Eribon rekonstruiert die von Knappheit und Zwängen bestimmte Biografie einer Frau, die an einen brutalen Ehemann gekettet blieb und sich sogar in ihren Träumen bescheiden musste. »Meine Mutter«, hält er fest, »war ihr ganzes Leben lang unglücklich. «
Didier Eribons neues Buch ist hochpolitisch: Er legt schonungslos dar, wie sehr die Politik, aber auch die Philosophie, ja wir alle die skandalöse Situation vieler alter Menschen lange verdrängt haben. Zugleich erweist er sich erneut als großer Erzähler: Anhand suggestiver Episoden und berührender Erinnerungen zeigt er, wie wichtig Familie und Herkunft für unsere Identität sind. Er kauft ein Dialekt-Wörterbuch, um noch einmal die Stimme seiner Mutter im Ohr zu haben. So entfaltet der Soziologe das Porträt einer untergegangenen Welt: des Milieus der französischen Arbeiterklasse - mit ihren Sorgen, ihrer Solidarität, ihren Vorurteilen.
Besprechung vom 29.11.2025
Der kalte Tod und was vom Menschen bleibt
Der Soziologe Norbert Elias dachte über die Einsamkeit der Sterbenden in unserer Zeit nach.
Von Tania Martini
Beinahe wäre es zu einem Austausch zwischen Michel Foucault und Norbert Elias gekommen. Foucault hatte seine Teilnahme an einer von Elias organisierten Konferenz zum Thema "Civilising Processes and Modernity" im Juni 1984 in Bielefeld zugesagt, erschien jedoch nicht. Wie sich auf dem Blog der Zeitschrift "Genealogy and Critique" nachlesen lässt, war die Tagung auf jenen Tag datiert, an dem Foucault an den Folgen seiner Aids-Erkrankung starb. Dass Foucault sich am Ende seines Lebens jedoch mit zumindest einem bestimmten Text von Elias beschäftigte, berichtet unter anderem Didier Eribon, der das Nachwort zur Neuausgabe von Elias' Essay "Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen" aus dem Jahr 1982 verfasst hat. Foucault habe den Text ins Französische übertragen wollen. Was auch als Indiz dafür gelten kann, dass er seinen nahenden Tod nicht völlig verdrängte, wie oft behauptet wird. Bis Elias' Text 1987 erstmals in Frankreich erschien, vergingen noch drei Jahre.
Die deutsche Neuauflage des Textes, ergänzt um Elias' Nachwort für die englische Ausgabe, ist wohl Didier Eribon zu verdanken. Für sein Buch "Die Arbeiterin" (2024), das vom Alter und Tod seiner Mutter handelt, ließ er sich von Elias anregen. Durch seine Mutter erfuhr Eribon, wie es ist, wenn der Tod institutionalisiert wird. Wenn Menschen nicht im Kreis von Freunden oder Familie, sondern in Krankenhäusern, Hospizen oder Pflegeheimen sterben - wie heute etwa achtzig Prozent von ihnen. Wenn Standardisierung, Distanzierung und Professionalisierung den Alltag der Alten und ihr Sterben prägen. All das analysiert Elias bereits in seinem Essay.
Dass die Alten und der Tod aus dem Blickfeld der Lebenden weitgehend verschwunden sind, hängt mit Angst, Schuld, und Scham zusammen. "Noch nie starben Menschen so geräuschlos und hygienisch wie heute", schreibt Elias. Die individuelle Verdrängung im Sinne Freuds ist dabei nur ein Teilaspekt, den Elias zur Erklärung heranzieht. Schon gar nicht geht es ihm um Angst und Scham als anthropologische Konstanten. Vielmehr möchte er historisch spezifische Zivilisierungsschübe im Verlauf des fortschreitenden Zivilisationsprozesses analysieren und damit die sozialen Bedingungen in der Moderne und den entwickelten Industriestaaten. Was nicht heißt, dass er jeweilige Produktionsweisen in den Mittelpunkt stellt; Elias kreist eher um die vergesellschaftenden Normengefüge und damit verbundene Persönlichkeitsstrukturen.
Dementsprechend versteht er Verdrängung - diesen "Schleier des Unbehagens, der in unseren Tagen häufig die ganze Lebenssphäre des Sterbens umgibt" - nicht nur individuell, sondern als sozialen Prozess. Das Schwinden religiöser Vorstellungen vom Leben nach dem Tode, die einst als Bewältigungsstrategie für das Wissen um die eigene Endlichkeit dienten, spielt hier ebenso eine Rolle wie die Tatsache, dass die Verhaltens- und Redeweisen zwar weniger stereotyp als in früheren Gesellschaftsformationen geworden sind, starke und spontane Empfindungen jedoch zunehmend tabuisiert wurden - was vor allem im Hinblick auf den Tod gelte, weniger für die Sexualität. Die fortschreitende Individualisierung, ja sogar Vereinzelung der Subjekte gehe mit der entsprechenden Selbstwahrnehmung als vereinzelt einher. Der Existenzialismus - von Elias als Symptom dieser Entwicklung verstanden - formuliere die Sinnfrage daher "als Suche nach dem Sinn eines vereinzelten Menschen". Aber ein Mensch, der seine Existenz als sinnlos und sich als vereinzeltes Wesen wahrnehme, sterbe auch als solches, so Elias.
Der Tod selbst werde zwar nicht als abwendbar erlebt, jedoch durch ein wachsendes Sicherheitsgefühl und zunehmenden Wissensreichtum hinausgeschoben und verdrängt. Dass einen nicht jede Grippe dahinrafft und es unwahrscheinlich geworden ist, zeitnah in ein Duell oder einen Krieg verwickelt zu werden, trägt zur Illusion einer gewissen Absicherung gegen den Tod bei. Elias ist jedoch weder nostalgisch noch modernekritisch oder rückwärtsgewandt genug, um anzunehmen, das Sterben im Kreis der Familie sei grundsätzlich oder stets die bessere Form gewesen. Und ebenso wenig idealisiert er traditionellere Gesellschaften oder ihre sozialen Formen insgesamt.
Nostalgie oder Kulturkonservatismus findet man glücklicherweise nicht. Dass er in seiner Analyse sozialer Prozesse engagiert Konzepte wie Fürsorge und Freundschaft aufgreift, ist ungewöhnlich für Elias. Letztlich mündet diese Perspektive gar in ein subtiles Plädoyer dafür, sich zu verbinden. "Sinn ist eine soziale Kategorie; das zugehörige Subjekt ist eine Pluralität miteinander verbundener Menschen." Und das ist die vielleicht beste Schlussfolgerung aus der Einsicht, dass der Tod kein Geheimnis verbirgt: "Er öffnet keine Tür. Er ist das Ende eines Menschen." Norbert Elias: "Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2025. 112 S., br.
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