Wie lange hallt Vergangenheit, insbesondere ein Trauma aus der Vergangenheit, nach? Vor allem dann, wenn noch lebendige Erinnerung an unmittelbar Betroffene vorhanden ist, erhält sie sicher eine persönliche Note. Das ist mir beim Lesen von "Wir Ostpreußen" von Jochen Buchsteiner deutlich geworden. Das Buch ist sowohl eine Familiengeschichte als auch die Geschichte der Flucht mit einem Treck aus Ostpreußen, über das Haff, beispielhaft für das Schicksal von 14 Millionen Menschen aus den früheren deutschen Ostgebieten am Ende des Zweiten Weltkrieges und in den Jahren danach.Buchsteiners Großmutter, die aus einer Gutsbesitzerfamilie stammte, hatte kurz vor ihrem 90. Geburtstag die Geschichte ihrer Flucht für die Enkel aufgeschrieben - Jahre später machte sich Buchsteiner zusammen mit seinem Vater und seinem ältesten Sohn selbst auf den Weg, diese verlorene Heimat kennenzulernen und auf umgekehrtem Weg der Route der Großmutter zu folgen. Gleichzeitig erzählt er die Lebensgeschichte seiner Großeltern und die Wurzeln der Familie. Es ist ein persönlicher Blick, mit manchem Sentiment, aber unsentimental.Nicht alles, was er sehen wollte, war erreichbar: Das historische Ostpreußen gehört mittlerweile teils zur russischen Exklave Kaliningrad - das frühere Königsberg, andere Teile sind heute polnisch oder litauisch. Und während eine Reise in die EU-Staaten Polen und Litauen unproblematisch ist, ist ein Besuch im russischen Gebiet auch schon vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine mit viel komplizierter Bürokratie verbunden. Insofern ist mancher Sehnsuchtsort für Buchsteiner unerreichbar. Und ein Sehnsuchtsort ist Ostpreußen für den Autor wohl bis in die Gegenwart - nicht im Sinne revanchistischer Ansprüche, sondern in einem verklärten Bild eines geheimnisvollen Landes voller Schönheit, mit einem weiten Himmel und ländlicher Idylle. Das ist vielleicht auch der Herkunft geschuldet. Das Leben einer Gutsbesitzerfamilie sah anders aus als das ihrer Landarbeiter, oder eines schlesischen Bauern oder der Stahlarbeiter oder Bergleute in Oberschlesien. Für die einen war die Fallhöhe besonders groß, weil sie viel mehr Wohlstand und angenehmen Lebensstil zu verlieren hatten, aber am Ende waren sie alle entwurzelt und als Flüchtlinge in einem zerstörten Land, in dem sie nicht unbedingt als willkommene Landleute galten.Dass die Geschichte weitergegangen ist, ist bei der Reise der Erinnerung für den Autor mitunter bedauerlich: Statt ländlicher Alleen eine Schnellstraße, riesige Werbeplakate am Straßenrand, Fertighaussiedlungen und Verkehrskreuze. "Polen umarmt das Neue mit der grimmigen Entschlossenheit des Erben, der Abstand zur Vergangenheit schaffen will", schreibt Buchsteiner, sehnt sich ein bißchen nach dem schäbigen Idyll, das Ralph Giordano bei einer Jahre 30 Jahre zuvor beschrieb, "Etwas Banales hat sich eingeschlichen, die Banalität der Globalisierung, die man mit dem mythischen Ostpreußen nicht recht in Verbindung bringen will."Das erinnert an die Enttäuschung der Nachkommen deutscher Auswanderer, die Deutschland nur aus Familienüberlieferungen kennen und bei einem Besuch erstaunt sind, statt der erwarteten Fachwerkidylle ein ganz anderes und deutlich internationaleres Land vorzufinden. Gespräche mit den heutigen Einwohnern bleiben an der Oberfläche, oder scheinen der Beschreibung zufolge ein wenig verkrampft. Insofern bleibt es ein deutscher Blick auf Ostpreußen. Schade eigentlich, denn in den vergangenen 20 bis 30 Jahren haben sich in Polen viele Initiativen in den Gebieten gegründet, die "poniemieckie" sind, wo früher Deutsche lebten. Und junge Menschen, die dort längst ihre Wurzeln haben, arbeiten die Geschichte über das Erbe derjenigen auf, die dort einst lebten.