In "Vor hundert Sommern" erzählt Katharina Fuchs eine Familiengeschichte, die sich über mehrere Generationen erstreckt. Im Fokus stehen Clara, die in den 1920er- und 1930er-Jahren in Berlin lebt, sowie Anja und ihre Tochter Lena in der Gegenwart. Beim Ausräumen der Wohnung von Anjas Mutter Elisabeth stoßen Mutter und Tochter auf Hinweise zur Vergangenheit, insbesondere zur geheimnisvollen Tante Clara. Deren Lebensweg, der von Armut, politischer Verfolgung, Freundschaft und persönlicher Stärke geprägt ist, entfaltet sich nach und nach. Parallel dazu werden aktuelle Themen rund um Anja und Lena behandelt, etwa antisemitische Vorfälle, gesellschaftliche Erwartungen an Frauen, vegane Ernährung und psychische Belastungen.Die Struktur des Romans wechselt kapitelweise zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Dieser Aufbau sorgt grundsätzlich für Abwechslung und Spannung, allerdings gerät das Gleichgewicht der Erzählstränge ins Wanken. Insgesamt wäre eine stärkere Gewichtung der Vergangenheitsebene wünschenswert gewesen. Clara ist eine eindrucksvolle Figur, deren Entwicklung und Schicksal besonders berühren. Ihre Kapitel wirken lebendig und eindringlich, während die Gegenwartshandlung stellenweise langatmig wirkt und zu viele gesellschaftliche Themen gleichzeitig aufgreift, wodurch die Tiefe leidet. Die zahlreichen Probleme, mit denen sich Anja und Lena auseinandersetzen, wirken teils konstruiert oder überladen.Der Schreibstil ist flüssig und gut lesbar, mit einem Gespür für Atmosphäre, insbesondere im historischen Teil. Schauplätze, besonders Berlin in den 20er- und 30er-Jahren, werden anschaulich dargestellt und erzeugen ein starkes Lokalkolorit. Die Figurenzeichnung ist überwiegend gelungen. Clara überzeugt als starke, glaubwürdige Frau und Anja durchläuft eine nachvollziehbare Entwicklung. Lena hingegen wirkt eher unsympathisch und wenig greifbar.Insgesamt ist "Vor hundert Sommern" ein unterhaltsamer Generationenroman, der historische Ereignisse und persönliche Schicksale verknüpft. Wer wie ich Romane mit verschiedenen Zeitepochen mag, wird hier trotz einiger Schwächen auf seine Kosten kommen. Vorausgesetzt, man kann über den etwas überfrachteten Gegenwartsstrang hinwegsehen.