Was ist schlimmer? Gejagt zu werden oder niemals gefunden zu werden?
Heather Berriman, genannt Bird, ist eine Frau auf der Flucht. Gerade noch war sie in einer Besprechung in ihrem Büro in Birmingham - und in der nächsten Minute muss sie ihren Job, ihr Zuhause, ihr Leben hinter sich lassen. Es ist der Tag gekommen, mit dem sie gerechnet und auf den sie sich vorbereitet hatte. Aber nichts konnte sie auf das vorbereiten, was als Nächstes passieren würde.
Während Bird versucht herauszufinden, wer hinter ihr her ist, muss sie sich entscheiden, wem sie noch vertrauen kann.
Besprechung vom 04.08.2025
Die Wahrheit liegt im Auge der Betrachterin
Mit literarischen Wurzeln und Ambitionen: In Louise Doughtys "Deckname: Bird" ist eine Agentin auf der Flucht
"Ich spüre, wie ich aufstehe, und währenddessen denke, vielmehr berechne ich Folgendes: Bis zu den Aufzügen sind es keine dreißig Schritte." Heather Berriman ist Agentin im Dienst Ihrer Majestät. Sie arbeitet für eine wolkig "Department of Standards" genannte Einheit in Birmingham, die unsichere Kantonisten in den Reihen der Mitarbeiter aufspüren soll, aber davon erfahren wir erst sehr viel später. Zu Beginn von "Deckname: Bird" sitzt Heather in einem Meeting, als ihr Chef eine Ansage macht, die ihr schlagartig verdeutlicht, dass jetzt der Moment gekommen ist, auf den sie sich ihr Leben lang vorbereitet hat. Was er sagt, wird nicht mitgeteilt.
Die Flucht beginnt. Wir folgen Bird, wie ihr Vater Heather genannt hat, in den Norden des Königreichs, wechseln mit ihr Züge und Verkleidungen, erleben sie als Prepper, vorbereitet auf alle Eventualitäten, falscher Pass, Geld. An die Westküste der Highlands geht die Reise, wo sie in einem anderen Leben einst ihre schwangere Freundin Flavia besuchte, die sie aus gemeinsamen Tagen beim Women's Royal Army Corps kannte. Die Beziehung zu diesem Lebensmenschen, die keine sexuelle war, ging in die Brüche. Jahre später wird Bird herausfinden, dass Flavia tot ist.
Bird ist Ende vierzig, alleinstehend, unscheinbar, sportlich - ihrem Röntgenblick und ihrem scharfen Verstand entgeht nichts. Geblieben ist ihr die Mutter, Teil einer "Frauengeneration, der man antrainiert hatte, dass ihnen alles Mögliche nichts ausmachte". Ihr längst verstorbener Vater war beim Geheimdienst gewesen, hatte seiner Familie Fluchtpläne eingeimpft, bevorzugte gekieste Auffahrten, weil sie jegliche Annäherung verraten. Der Vater spielt in Birds lebhaften, sie quälenden Erinnerungen eine zentrale Rolle. Er hat viel in ihr angelegt, auch wenn sie an ihr Familienleben als an einen "Fluss des Schweigens" zurückdenkt. Ein Protegé ihres Vaters, Richard Semple, war es auch, der Bird als Agentin anwarb. Jetzt zieht er die Strippen, die sie nicht bemerkt.
Der Roman spielt in den ersten Jahren der Mobiltelefonie, die lückenlose Digitalüberwachung unserer Tage gibt es noch nicht. Bird spürt ihren Verfolger, bevor sie ihn sieht, und sie hat einen Verdacht, wer den Killer in Bewegung gesetzt haben könnte. Als Passagierin einer kleinen Segelyacht setzt sie in einer Herbststurmnacht nach Norwegen über, verkriecht sich dort als unauffällige Touristin. Die Affäre mit dem Inhaber eines Fahrradladens endet abrupt, als sie beobachtet, wie er von einem Besucherpaar befragt wird. Bird erkennt ihresgleichen sofort, wieder lässt sie alles stehen und liegen und fliegt weiter nach Island.
In der angelsächsischen Welt wesentlich bekannter als hierzulande, hat die einundsechzigjährige Louise Doughty in drei Jahrzehnten zehn Romane vorgelegt und diverse Preise eingeheimst. Ihre bekanntesten, auch verfilmten sind "Apple Tree Yard" (2013, dt. "Ein Schritt zu weit") und "Platform Seven" (2019, dt. "Was die Nacht verschweigt"). Der aktuelle Roman "A Bird in Winter" (2023) dürfte Leserinnen enttäuschen, die einen schnörkellosen Pageturner erwarten. Denn Doughty lässt vieles offen, verweigert letzte Gewissheiten. Das wurde ihr von der englischen Kritik als Konstruktionsmangel ausgelegt. Die "Sunday Times" kolportierte gar, Doughty habe eine Kreuzung von John le Carré und Elena Ferrante angestrebt. Immerhin spielt der Roman geschickt mit der Phantasie der Leser, was wäre, wenn man von jetzt auf gleich alles stehen und liegen lassen müsste?
Der klassische Agententhriller, die spy novel, bildet nur das Raster, durch das die Autorin Elemente von Psychothriller, Gesellschaftsroman, Reiseliteratur und Nature Writing siebt. Der Thriller, als der das Buch verkauft wird, muss mittlerweile viel schlucken, im Falle Doughtys gehört dazu auch ein literarischer Bezugsrahmen, der mit zwei Gedichten von Louis MacNeice (1907 bis 1963) markiert wird - "London Rain" und "Snow". Sie öffnen eine weitere Tür auch zu einem literarischen Echo, einer Reise, die MacNiece 1936 auf Einladung von W. H. Auden unternahm.
Die beiden Dichter erkundeten drei Monate den Nordwesten Islands und machten daraus ein Buch, das 1937 bei Faber & Faber erschien: "Letters From Iceland". Heute ein Klassiker der Reiseliteratur, damals ein ungewöhnlicher Stilmix aus Reportage, Briefen, Gedichten und Packlisten. Geblieben ist davon unter anderem der Auden zugeschriebene Satz "That the north begins inside" aus MacNeices "Epilogue for W. H. Auden". Die Übersetzung von Astrid Arz verwendet nord- beziehungsweise westdeutsche Ausdrücke wie einen "Jieper" haben oder Essen "auftun", und dass aus dem "wedding band" ein "Hochzeitsring" und kein Ehering wird, fällt wohl in die Abteilung Anglizismus.
Bird versteckt sich im südlichsten Dorf der Insel, über einen Mittelmann nimmt sie Verhandlungen mit dem Dienst über eine straffreie Rückkehr in ein neues Leben auf. Es kommt zu einem Treffen mit Richard Semple am Flughafen von Reykjavík. Wie lange kann man auf Island fliehen? HANNES HINTERMEIER
Louise Doughty: "Deckname: Bird". Thriller.
Aus dem Englischen von Astrid Arz.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2025.
392 S., br.
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