Aus dem Französischen übersetzt von Claudia Kalscheuer. Ich liebe ja Bücher, die auf wenigen Seiten eine Geschichte wie ein ganzes Leben entfalten. Die kein Wort zu viel enthalten. Die in mir Bilder erzeugen, mich unausgeschriebene Gedanken weiter denken lassen, die mir die Frage aufdrängen, was würde ich denn in dieser Situation jetzt tun. Genau so ein Buch ist "Der Junge im Taxi". Auf der Beerdigung seines Großvaters erfährt Simon von seinem deutschstämmigen Onkel, dass eben jener Großvater neben seinen 4 Kindern mit seiner Ehefrau einen weiteren Sohn in Deutschland hat, ein Sohn, dessen Existenz verdrängt und verschwiegen wird. Malusci, der Großvater, war kurz nach dem Krieg als ganz junger Mann Besatzungssoldat in Deutschland, am Bodensee, und dort verliebte er sich. Simon kann das zunächst überhaupt nicht fassen. Wer war sein Großvater? Er beginnt zu recherchieren und spricht mit seinen Verwandten, doch die reagieren sehr unterschiedlich, von Gleichgültigkeit über Interesse bis Ablehnung und Verleugnung ist alles dabei. Simon erfährt von dieser Geschichte in einer Phase seines Lebens, die alles andere als einfach für ihn ist, denn nach 20 Jahren haben er und seine Partnerin, die Mutter seiner beiden kleinen Söhne, ihre Beziehung beendet. Es gab keinen konkreten Auslöser, keinen point of no return, sondern beide mussten schmerzlich erkennen, dass es schon länger nicht mehr richtig passte mit ihnen. Simon ist unendlich traurig und noch dabei, sich an das Leben ohne A., seine Partnerin, zu gewöhnen. Ihr Arrangement ist so, dass die Söhne weiterhin im gemeinsamen Haus leben, und er und A. wohnen wechselweise dort. Simon leidet unter der zeitweisen Trennung von den Jungs. Dabei, denkt er, könnte er die freie Zeit genießen, Zeit, die er, seit die Kinder auf der Welt sind, nie mehr hatte, und Dinge tun, für die keine Zeit zu haben er stets bedauerte. Doch jetzt fühlt er sich seltsam verloren. Und der teilweise Verlust seiner Söhne wirkt sich aus auf seine Gedanken über den vom (Groß-)Vater verlassenen Sohn. Wie ist es M., dem vaterlosen Sohn, und seiner Mutter ergangen? M. ist kein Einzelfall. 400.000 Kinder wurden von Besatzungssoldaten in Deutschland gezeugt, Besatzungskinder nannte man sie. Ein Teil hatte das Glück, dass die Eltern als Paar zusammenblieben und genossen so ein ganz normales Familienleben. M. und seine Mutter jedoch nicht. Haben ihre deutschen Landsleute ihr, dem Franzosenliebchen, das Leben schwer gemacht? Und M.? Hat man ihn spüren lassen, dass er ein Besatzungskind war, ein Kind, das es eigentlich nicht geben dürfte? Simon ist sehr hin- und hergerissen was er tun, was er denken soll. Zum Teil recherchiert er, zum Teil konstruiert er sich in seinen Gedanken zurecht, wie es gewesen sein könnte. Und gleichzeitig hilft ihm dieser ihm so unerwartet zugefallene Onkel, sich mit seiner eigenen Situation nach und nach zu arrangieren. Auf nicht einmal 200 Seiten entfaltet Prudhomme zwischen zwei Buchdeckeln eine Lebens- und Familiengeschichte, die mich vollkommen in sich hinein gezogen hat. Ein wahnsinnig intensives Leseerlebnis, das mich noch lange beschäftigen wird. Wofür sich mir allerdings keine Erklärung aufdrängt ist die Frage, warum der Autor A. und M. keine vollständigen Namen zugesteht, sondern es bei den Anfangsbuchstaben belässt. Trotzdem ganz große Leseempfehlung! Sylvain Prudhomme verbrachte seine Kindheit in verschiedenen afrikanischen Ländern, studierte in Paris Literaturwissenschaften, um danach wieder in Afrika zu arbeiten. Er hat bereits mehrere Romane geschrieben und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Mit der "Junge im Taxi" hat er mich absolut überzeugt, so dass ich weitere seiner Bücher lesen werde.