Ich hab es wegen seiner feinfühligen Zeichnung der Charaktere und seiner poetischen Sprache sehr geliebt
"Denn in der Ordnung der Familien besteht das Verbrechen seit jeher darin zu reden, niemals zu schweigen." S.16Simons Leben steckt in einer Zwischenlösung fest. Seit einem Monat teilt er sich Wohnung und Sohn wochenweise mit A., der ehemaligen Lebenspartnerin. Trennung ohne Trennung. Vorerst. Mit dem Tod des bald 100jährigen Großvaters erwacht eine an Besessenheit grenzende Leidenschaft und Neugier für ein unglaubliches Familiengeheimnis, das er bei dessen Beerdigung erfährt. Der algerisch-stämmige Großvater hat als Soldat der Besatzungsmacht Frankreich im zweiten Weltkrieg am Bodensee in der Nähe von Ravensburg ein Kind gezeugt und mit der deutschen Mutter zurückgelassen. Ein Junge, M., der heute ein alter Mann von 80 Jahren ist oder wäre. Kein seltenes Schicksal. "Es hat 400.000 Kinder wie M. gegeben, die von alliierten Soldaten gezeugt wurden." 1946 geboren, sind die meisten von ihnen als sogenannte "Bastarde" ohne ihre Väter, in einer Gefühlswelt zwischen Sehnsucht, Wut und Scham aufgewachsen. Wie besessen macht Simon sich nun auf Spurensuche. Wer weiß davon? Warum hängt ein Mantel aus Schweigen darüber? Warum spricht seine Großmutter ein eiskaltes Verbot aus, weiter nach M. zu suchen? Das er zunächst respektiert. Sie hat ja vielleicht recht: warum kümmert er sich nicht um die Fragmente seines eigenen Lebens? Ist es die Sehnsucht nach Ablenkung und Abenteuer, die dahintersteckt oder hat dieses vergessene Leben mehr mit ihm zu tun als er denkt?Sylvain Prudhomme erzählt von einer behutsamen Suche, indem er Details aus der Familiengeschichte, vor allem der Geschichte der Großeltern zwischen Algerien und Toulouse, zwischen Heimat und Exil, zwischen Welt- und Kolonial-Kriegen nur sehr langsam aufblättert. Die Puzzlesteine fügen sich zunächst überwiegend in Simons Vorstellung zu einer Geschichte. Dabei gewinnt sein eigenes Leben Kontur und verwebt sich mit der Vergangenheit des Großvaters, mit dessen ungelebter Liebe. In zeitweise atemlosen Sequenzen ohne Punkt und Komma blättert der Autor die ganze schmerzvolle Geschichte von Verrat und Enttäuschung, Liebe und Sehnsucht, Verleumdung und Zurückweisung auf. Der Junge im Taxi geht mit seiner melancholischen Poesie zu Herzen, unter die Haut und erschüttert. Es gab Stellen, die haben mich so erfasst, dass der Sog des Textes Tränen gelöst hat, die nicht manipuliert, sondern rein waren. Ich weine wirklich selten beim Lesen. Auf mehreren Zeitebenen begeben wir uns auf die Suche nach dem Verstehen. Warum tun Familien sich solche Geschichten an? Warum investieren sie so viel Kraft, sich ihre eigene Vergangenheit zurechtzulegen, und dieses Konstrukt am Leben zu erhalten? "... weniger eine Handlung im eigentlichen Sinne als vielmehr ein fortgesetztes Nicht-Handeln, eine fehlende Bereitschaft, gegen den Willen der Familie zu verstoßen und einen Skandal zu verursachen, ein Befolgen des ewigen Gebots, bloß keine Wellen zu schlagen." S.15Und darin erkennen wir uns auch wieder, in diesem "Gesetz der Familie", zwischen diesen Fronten, die nicht nur durch Welt- und Bürgerkriege errichtet werden, sondern durch Scham, Angst, Gewohnheit, die Zeit, die Unzulänglichkeit der Liebe. Ich hab's sehr geliebt.