Ein leiser, aber intensiver Roman über einen Sommer 1969, in dem persönliche und gesellschaftliche Umbrüche aufeinandertreffen.
BuchvorstellungUlrich Woelks Roman "Der Sommer meiner Mutter" entführt uns ins Jahr 1969; in einen Sommer voller Umbrüche, Aufbrüche und Abgründe. Die Geschichte spielt am Stadtrand von Köln, im Milieu einer bürgerlichen Neubausiedlung. Erzählt wird sie aus der Sicht des elfjährigen Tobias Ahrens, einem nachdenklichen Jungen mit großem Interesse an Wissenschaft, insbesondere der bevorstehenden Mondlandung. Während Neil Armstrong sich darauf vorbereitet, den Mond zu betreten, beginnt für Tobias und seine Familie ein anderer, ganz persönlicher Aufbruch; einer, der ebenso weltverändernd wirkt, zumindest in ihrer kleinen Welt.Als die neue, politisch engagierte Familie Leinhard ins Nachbarhaus zieht, prallen zwei Lebensentwürfe aufeinander. Tobias' konservative, katholisch geprägte Eltern treffen auf ein linksintellektuelles Paar, das aus Griechenland zurückkehrt und frischen Wind mitbringt; kulturell, politisch und emotional. Schnell entsteht eine enge Verbindung zwischen beiden Familien. Besonders Tobias' Mutter beginnt, sich von ihrer Rolle als Ehefrau und Hausfrau zu lösen; inspiriert durch Frau Leinhard und ihre Ideen von Selbstbestimmung und Emanzipation. Auch die Kinder, Tobias und die ältere Rosa, nähern sich an und erleben ihre ersten körperlichen und emotionalen Erkundungen.Doch der scheinbar nostalgische Bilderbogen wird durch eine schockierende Eröffnung in düsteres Licht getaucht: "Im Sommer 1969, ein paar Wochen nach der ersten Mondlandung, nahm sich meine Mutter das Leben." Dieses Wissen begleitet jede Szene und verleiht der Geschichte Tiefe und Tragik.RezensionUlrich Woelk gelingt mit "Der Sommer meiner Mutter" ein vielschichtiger, atmosphärisch dichter Roman, der weit mehr ist als eine Jugendgeschichte vor historischem Hintergrund. Was auf den ersten Blick wie ein nostalgisches Erinnerungsstück an eine Zeit der technischen Utopien und gesellschaftlichen Umwälzungen wirkt, entpuppt sich als fein verwobenes Psychogramm zweier Familien und vor allem als intensive Studie über das Gefüge von Ehe, Rollenbildern, Begehren und Entfremdung.Besonders gelungen ist die Erzählperspektive. Aus dem Blickwinkel des elfjährigen Tobias wirkt vieles naiv und unausgesprochen und doch spürt man als Leser die Spannungen zwischen den Zeilen. Woelk nutzt diese kindliche Perspektive nicht zur Verklärung, sondern als stilistisches Mittel, um die Risse in den erwachsenen Beziehungen umso deutlicher hervortreten zu lassen. Manches bleibt dabei bewusst undeutlich, vieles wird angedeutet statt ausgesprochen, was dem Roman seine eindringliche, fast schwebende Stimmung verleiht.Die Dynamik zwischen den beiden Müttern ist ein zentraler Katalysator der Handlung. Ihre Annäherung - emotional wie körperlich - sprengt nicht nur gesellschaftliche Konventionen, sondern setzt auch eine Entwicklung in Gang, die niemand mehr aufhalten kann. Woelk beschreibt das ohne Voyeurismus, sondern mit großer Empathie und psychologischer Präzision. Die Begegnung zwischen Rosa und Tobias spiegelt auf kindlich unsichere Weise diese Suche nach Nähe und Selbstverortung wider.Besonders berührend sind die leisen, inneren Konflikte. Die Leere in der Ehe der Ahrens, die Sprachlosigkeit zwischen den Eltern, das verzweifelte Ringen der Mutter um Selbstverwirklichung. All das wird getragen von einer subtilen, aber dichten Sprache, die viel zwischen den Zeilen erzählt.Fazit"Der Sommer meiner Mutter" ist ein kluger, einfühlsamer und intensiver Roman über eine Zeit des Aufbruchs; historisch wie persönlich. Woelk verwebt gesellschaftliche Entwicklungen der späten 60er Jahre mit den leisen, oft übersehenen inneren Kämpfen seiner Figuren. Die Geschichte ist tiefgründig, ohne schwer zu wirken, und emotional, ohne je kitschig zu werden.Mich persönlich hat besonders beeindruckt, wie die beiden Familien, so gegensätzlich sie auch wirken, aufeinander reagieren und sich gegenseitig verändern. Woelk zeigt, wie Begegnungen mit anderen Lebensmodellen dazu führen können, das eigene Leben zu hinterfragen und das mit weitreichenden Konsequenzen. Die Geschichte ist tragisch, aber nie hoffnungslos. Sie ist melancholisch, aber niemals zynisch.Ein stilles, großes Buch, eindrucksvoll erzählt, klug komponiert und tief bewegend. Wer sich für psychologisch dichte Familiengeschichten mit historischem Kontext interessiert, sollte diesen Roman unbedingt lesen.