
Besprechung vom 22.10.2025
Ein Glaube ohne Lehre
So ist denn jede Gottheit hingeschwunden? Roberto Espositos subjekttheoretische Deutung des Faschismus zeigt den Postfaschismus Giorgia Melonis und den Antifaschismus französischer Theorie in einem ungewohnten geistigen Licht.
Die italienische Enzyklopädie von 1922 nennt den Faschismus "uno stile". Sie tut damit all jenen einen Gefallen, die trotz unterschiedlicher Weltanschauungen die Notwendigkeit einer allgemeinen Mobilisierung bejahen. Im Rückblick wird man aus der Mobilisierung selbst die Weltanschauung destillieren: bei Martin Heidegger, beim frühen Ernst Jünger, beim italienischen Staatsphilosophen Giovanni Gentile, einem Hegelianer, der den "Aktualismus" erfand.
Ganz zur Ruhe gekommen ist die Diskussion um den Faschismus in Italien nie. Jüngste Anlässe sind ein selbstgerechter Pro-Palästina-Aktivismus, der sämtliche Juden im Land als Benjamin Netanjahus Kolonne brandmarkt, oder der von den "Rotbraunen" befürchtete Sicherheits- und Wohlstandsverlust in einem Europa, das den Attacken des friedliebenden Russlands zuvorkommen wolle. Aber auch die demokratische Regierungsübernahme durch eine Rechte, die sich gleichermaßen berufen sieht, "die linke Kulturhegemonie zu brechen" wie das Europa der Vaterländer zu verteidigen, im Windschatten solcher Verlautbarungen jedoch vermittelnde Positionen sucht, bringt die Frage nach dem Wesen des Faschismus und den Bedingungen seiner Rückkehr auf die Tagesordnung.
Ist er identisch mit dem "Duce", dessen romanhafte Biographie von Antonio Scurati (F.A.Z. vom 3. Juli) ein großer Bestseller war und dessen Verfilmung fast genauso Bargespräch ist wie weiland die Abenteuer von Elena Ferrantes genialer Freundin? Ist er eine spezifische politisch-mediale Konstellation, wie man mit Blick über den Atlantik (und auf die gelegentlich zelebrierte Freundschaft Giorgia Melonis mit dem nach Art afrikanischer Potentaten der ersten Dekolonialisierung hofierten Präsidenten) meinen könnte, oder stellt er gar eine Herausforderung dar für das, was "wir" zu sein glauben?
Davon überzeugt zeigt sich der Philosoph und Politikwissenschaftler Roberto Esposito, der der "Biopolitik" und dem italienischen Denkstil ("Italian Theory") einige auch ins Deutsche übersetzte Bücher gewidmet hat. Sein Spätwerk indes sucht nach dem "Gesicht des Feindes", wie seine vorletzte Studie heißt, die vom Kampf des Patriarchen Jakob mit einem unbekannten Gegner im Alten Testament handelt. Verbirgt sich hinter diesem Gegner Gott, also die metaphysische Grundkonstitution, das Selbst (bekanntlich stets ein Anderes)? Espositos jüngstes Buch heißt "Il fascismo e noi. Un'interpretazione filosofica" (Einaudi, 316 S., 26,- Euro) und widmet sich der Konzeption eines in seiner Immanenz seine Transzendenz findenden oder anders gesagt: eines auf seine Äußerlichkeit zurückgeworfenen Subjekts, das die ihm gemäße politische Form in der tragischen Bejahung dieser Immanenz sieht.
Der Gedanke, den Faschismus als einen Antiuniversalismus zu diagnostizieren, der ebenso zerstörerisch gegen andere wie schließlich gegen sich selbst wütet, ist nicht ganz neu. Er ersetzt nicht Umberto Ecos vierzehn Charakteristika eines "Urfaschismus", verdeutlicht aber deren Zusammenhang. Die eigentliche Leistung von Espositos Buch liegt in der Zusammenführung des Denkens von Faschisten und Antifaschisten, auf dem Nachvollzug des Faschismus als eines philosophischen Problems, das seine Gegner zwingt, sich ihm denkerisch anzunähern, was wiederum Effekte in der Konzeption des Menschen produziert, die sich an ganz anderer Stelle niederschlagen können. In besonderem Maß gilt dies für Georges Bataille und die Pariser Gruppe um die Zeitschrift "Acéphale" (und im Nachgang für den Surrealismus, die Ethnologie, den Pariser Mai 68), aber auch für Simone Weil und Emmanuel Lévinas. Der Faschismus macht ein Ende mit der Lauheit des Lebens.
Ähnlich wie Zeev Sternhell in seiner Studie über Georges Sorel und Mussolini versucht Esposito, den Faschismus im Moment seines "unkontaminierten Strebens" zu begreifen, als er noch nicht mit dem maßgebenden industriell-politischen Komplex verbunden war: im Frankreich des späten neunzehnten Jahrhunderts. Insofern sieht er ihn nicht als italienische Erfindung. Nur trat mit Mussolini die Figur eines Condottiere hinzu, welche die Rückkehrer des Ersten Weltkriegs - und damit die Subjekte einer ersten nationalstaatlichen Erfahrung - charismatisch beseelte. Wie man Scuratis Mussolini-Biographie entnimmt, fußte diese Ermächtigung auf einem Verrat (der Sozialist, der sich vorderhand mit den Kapitalisten einlässt, indem er die Revolte des Staates gegen sich selbst anzettelt), der sich zum Verrat an allem auswuchs, was irgendeine transzendente Dimension annehmen konnte. Durch seinen Verrat an der Linken, der er entstammte, etablierte Mussolini das faschistische Blueprint. Dessen "generative Maschine" besteht laut Esposito "im Aufteilen der Realität in zwei entgegengesetzte Teile, wobei die eine in das Innere der anderen eingesetzt wird, nachdem beide verändert worden sind". National-Sozialismus oder eben "Fascismo sociale", Sozialfaschismus, stünden dafür als symptomatische Begriffe.
Es ist letztlich diese "generative Maschine", die dem Faschismus die Oberhand über seine Gegner - klassischerweise alle, welche die gegebene Situation überschreiten möchten: von den Kommunisten bis zu den Juden - sichert. Während Liberale und Linke, aber auch echte Reaktionäre, sich an bipolaren Gegensätzen abarbeiteten, so legt Esposito dar, operiere der Faschismus stets mit drei Gliedern, wobei das mittlere die Übersetzung ermögliche. Die Identität von Staat und Führer verläuft über den "Stamm", der wiederum die Möglichkeit offeriert, gegen die erste Instanz eine Allianz zu bilden. Der Führer kann, wie Esposito im Blick auf Deutschland zeigt, lange Zeit gegen den Staat agieren. Das gereicht ihm genauso wenig zum Widerspruch, wie wenn er sich mit ihm identifiziert. Zum Faschismus gehört somit wesensmäßig die Täuschung - wobei die permanente Mobilisierung die Geführten davon abhält, enttäuscht zu werden.
Es wäre verführerisch, Espositos Analyse des historischen Faschismus an Gegenwartsphänomenen zu erproben, nicht zuletzt angesichts eines im machtskeptischen Italien breit geteilten Vulgärmarxismus, der in Karl Polanyis Fußstapfen den Trumpismus als kapitalistische Bereicherungsstrategie abtut. Solche Anwendungen meidet Esposito, auch im Gespräch. Doch streift er im Buch den Neofaschismus der Siebziger- und Achtzigerjahre, der "rein" in dem Sinne war, dass seine Adepten sich jede Hoffnung auf Erfüllung versagten und vielmehr ihre Gewalttaten als geschichtsphilosophische Signatur, als Geste verstanden wissen wollten. Ähnliches gilt für jenen Islamismus, bei dem Selbstmordattentäter darauf zielen, die "Souveränität Gottes" wiedereinzusetzen. Unterstehen solche Phänomene aber nicht dem verzweifelten Kalkül, den Fluch der Immanenz zu brechen, indem sie sich ihm exzessiv unterwerfen? Was folgt daraus für die Metaphysik des Faschismus?
In Espositos Galerie widerständiger Denker fehlt der Name Elias Canettis. Der Autor von "Masse und Macht" (1960) lebte im englischen Exil als "Schaustück jüngster Verbannung", heimgesucht von den Toten auf dem Kontinent. Womöglich begriff er darum mehr als jeder andere den Faschismus als Totenkult. Im Wald, dem Massensymbol der Deutschen, erspähte er das wilde Heer der auf Rache sinnenden Gefallenen. Faschismus heißt, den Toten solche Herrschaft über die Lebenden einzuräumen, dass jeder Gedanke an eine eigene Zukunft darunter zerbricht. Gegen den Faschismus entstand Canettis Lebens-Ethik: niemand sterben zu lassen, am wenigsten in sich selbst.
"Der Tod ist die Transzendenz des Faschismus, sein konstitutiver Teil", gibt Esposito im Gespräch zu bedenken. "Die Toten müssen die Herrschaft über die Lebenden behalten, daher die Überhöhung der Erblichkeit der Rasse, des Blutes der Vorfahren, das die Lebenden auszeichnet." In diesem Sinn sei der Faschismus "ein Glaube ohne Lehre". In Gesellschaften langer Dauer werden, wie in Italien, die Toten mit der Zeit zu wohlgesonnenen Ahnen der Familie. In anderen Gesellschaften kommt es zur plötzlichen Akkumulation der eigenen und der namenlosen Toten auf erobertem Terrain. Man kann sie sich nicht anders vorstellen denn als Krieger - oder als bösartige Widergänger, die in amerikanischen und postkolonialen Horrorstreifen ihr Unwesen treiben.
Am Schluss der Lektüre keimt ein tröstlicher Gedanke: Hat nicht in Italien die Kulturalisierung den Faschismus entmachtet? Zwar widmet der amtierende Kulturminister, ein Mann mit einschlägiger Vergangenheit, der Sakralität des Ursprungs - der heidnischen Immanenz - ein Buch. Zwar wird der avantgardistischen Dynamik der Faschisten - Gabriele d'Annunzio, den Futuristen - in von Günstlingen der Premierministerin kuratierten Ausstellungen gehuldigt. Zwar wird die Folklore neofaschistischer Organisationen - die nach Tolkiens "Hobbits" benannten Jugendcamps oder das auf "Atreju" aus der "Unendlichen Geschichte" getaufte Festival - weiterhin zelebriert. Melonis Regierung verleiht dem Faschismus als Kultur und als Stil, genauer gesagt: deren Nachleben, Sichtbarkeit und museale Ehren. Und schneidet sie genau dadurch von der politischen Vitalitätsader ab. ULRICH VAN LOYEN
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