Besprechung vom 11.10.2025
Wer niemals die Wahl hat
Glückseliger Terror: Christelle Dabos erzählt "In die Spur der Vertrauten" von einer Dystopie mit Druck
Von Eva-Maria Magel
Von Eva-Maria Magel
Nur das Wir zählt, das ich ist nichts. Ohne Großbuchstaben geschrieben ist das Ich in Christelle Dabos' neuem Roman "Die Spur der Vertrauten". Eigentlich müsste es deutlich kleiner im Schriftbild erscheinen, dieses Ich. Denn in dem Superkontinent, dem Superstaat des Wir, ist das Individuum dem System nicht nur egal. Es ist eine Gefahr.
Auch nach mehr als 600 Seiten werden wir, die Leser, nicht genau wissen, wie dieses "Wir" sich eigentlich konstituiert. Der kollektive Wille aller, die ganz ihren Instinkten gehorchen und sich vollständig in den Dienst der Gesellschaft stellen, trifft es nicht ganz. Denn was ist ein Wille, der keine Wahl lässt? Frei ist im Superstaat der Glückseligen niemand. Oder doch?
Da ist Claire, die zur Vertrauten ausgebildet wird, eine jener Dienstbaren, die darauf geschult sind, zuzuhören, was der blanke Stress ist. Die Propaganda behauptet, alle Instinkte seien gleich. Aber wer immer zuhören muss, wer zwanghaft anderen die Schnürsenkel binden muss - ist diese Person frei? Und was ist mit dem Erzengel, der den Instinkt hat, alle zu eliminieren, die sich nicht dem Instinkt beugen? Anomalien und Individualisten sind die Feinde des Systems. Im Untergrund versuchen sie, Löcher ins System zu bohren.
Dabos erfindet einen Staat der Glückseligen, Gesunden, Rücksichtsvollen, der sich bald als blutiger Terror entpuppt. Darüber können Werbetafeln wie "Täglich eine gute Tat ersetzt des Doktors Rat" auch Claire nicht mehr hinwegtäuschen. Claire ist anders, nicht nur darum hat Dabos ihr den Namen der Klarheit gegeben. Sie wird lange brauchen, um sich über ihre Rolle klar zu werden. Und es braucht Zeit, die Rolle ihres Gegenspielers Noah, im französischen Original noch verrätselter Modeste genannt, zu verstehen.
Der Drang, die Rätsel zu lösen, treibt die Leser auch durch manches Tal dieser multiperspektivischen Erzählung, in der fast alles verrätselt und zugleich sprechend ist. Die Autorin, gelernte Bibliothekarin, weiß mit literarischen Witzen und unterschiedlichen Sprachstilen umzugehen. Das erhellt die Düsternis dieser Dystopie, die zwar futuristisch, aber zugleich mit den Errungenschaften der Achtzigerjahre ausgestattet ist: Minitel, Walkman, Telefonkarten. In den Mediatheken, auch eine Erfindung jener realen Epoche, aus der Dabos schöpft, gibt es Klassiker zu lesen wie "Der Besuch der alten Erhabenen" oder "Die Blumen des Guten", Süßigkeiten und Zigaretten gibt es nur auf dem Schwarzmarkt, alle sind gesund und streben nach Heiligkeit. Das darf man durchaus als Kritik heutiger Optimierungsversprechen lesen. Und eine religiöse Skepsis, eine Zuneigung zu eher unbeholfenen, tastenden Figuren sind Markenzeichen der Autorin.
Dabos, 1980 an der Côte d'Azur geboren und heute in Belgien ansässig, ist mit ihrer künstlerischen Biographie beinahe exemplarisch für jüngere Autorinnen gerade der Young-Adult- und Fantasy-Szene: Nach ersten literarischen Versuchen kam sie durch Fanfiction im Internet zum Schreiben. "La Passe-Miroir", von 2013 an im französischen Original gedruckt erschienen, war das vorläufige Ende dieses Prozesses. Mit der vierbändigen Saga, als "Die Spiegelreisende" 2019/20 auf Deutsch bei Insel erschienen, hat Dabos einen internationalen Bestseller geschrieben. "Die Spur der Vertrauten" hat nichts mehr von dessen Fantasy-Romantik. Oder nicht mehr viel: Es gibt durchaus geradezu rauschhafte Szenen, und Dabos erlaubt sich und den Lesern, gerade gegen Ende, völlig unerklärliche, allein durch die Behauptung wirkende Phänomene. Nicht alles wird aufgelöst. Aber dass hinter jeder Szene eine weitere Geschichte steckt, stecken kann, ist nicht das Wenigste, was Dabos ihren Lesern mitgibt. Man kann die Fäden aufnehmen oder auch nicht: Wir haben die Wahl.
Christelle Dabos: "Die Spur der Vertrauten".
Aus dem Französischen von Amelie Thoma und Nadine Püschel. Rotfuchs, Frankfurt 2025. 640 S., geb., 22,90 Euro. Ab 14 J.
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