
Besprechung vom 17.12.2025
Mehr Marcel als Reich-Ranicki
Die erste Lesung aus "Mein Leben" fand 1999 in London statt: Erinnerung an einen bemerkenswerten Auftritt des großen Kritikers.
Von Rüdiger Görner
Als Redner für die Bithell Lecture 1999, die das seinerzeitige Institute of Germanic Studies der University of London seit 1975 in loser Abfolge veranstaltete - jeder dieser Vorträge ein Höhepunkt im einst vitalen Leben der britischen Germanistik -, war der ehemalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher vorgesehen. Mein Vorgänger im Amt des Honorary Director dieser ehrwürdigen Einrichtung, Edward Batley, hatte Genscher für diesen Vortrag gewinnen können. Als ich das Amt im September 1999 übernahm, erreichte uns im Institut aus dem Büro von Genscher die Nachricht, dass dieser aus Krankheitsgründen kurzfristig absagen müsse. Somit wurde es zu meiner ersten eigentlichen Amtshandlung, eine würdige Alternative - das Wort "Ersatz für Genscher" verbot sich - zu verpflichten. Ich besann mich kurzerhand auf Marcel Reich-Ranicki, mit dem ich seit 1986, als er mich mit der Besprechung von Doris Lessings Roman "Die Terroristin" beauftragt hatte, in reger Verbindung stand.
Die Antwort des legendären Kritikers erfolgte postwendend. An einen eigens für diesen Anlass zu schreibenden Vortrag sei angesichts der Kurzfristigkeit dieser Einladung natürlich nicht zu denken. Denkbar aber sei, so Reich-Ranicki, eine Lesung, und zwar eines Auszugs aus einem größeren soeben abgeschlossenen Manuskript, betitelt mit "Mein Leben". Niemand kenne es bislang. Als Bithell Lecture wäre dies folglich die "Urlesung". Die Konditionen, die ich ihm bieten konnte, seien die "miserabelsten", die er je gesehen habe, aber er komme dennoch, und zwar mit seiner Frau Teofila. Eine der Bedingungen lautete: Vor weniger als zweihundert Zuhörern trete er nicht auf. Für entsprechende Publikumsgröße hätte ich Sorge zu tragen.
Für die erste Lesung aus Reich-Ranickis Autobiographie hätte jeder Veranstalter in deutschsprachigen Regionen spielend die doppelte Zuhörerschaft garantieren können; mir dagegen wurde heiß und kalt bei dieser Vorstellung. Denn in England war M. R.-R. keinesfalls ein Markenzeichen, auch in London nicht; und den Ort des Geschehens (die große Beveridge Hall im Senate House der University of London) mit genügend an den Lebenserinnerungen eines deutschen Literaturkritikers Interessierten zu füllen, war keine Kleinigkeit. Doch die Vorstellung, dass diese Veranstaltung tatsächlich gelingen könnte, war zu verlockend und jede Bemühung wert. Das Büroteam des Germanic Institute vollbrachte werbetrommelrührende Wunder, und es erwies sich: Auch in London zog der Name Reich-Ranicki wider alle Skepsis.
Ich hatte mit Reich-Ranicki vereinbart, dass ich ihn am Flughafen Heathrow mit dem Wagen abholen und von dort ins Hotel fahren würde. Er schien doch alleine angereist zu sein; ich fragte ihn nach seiner Frau. Sie komme schon noch, meinte er; wir könnten inzwischen vorgehen. Wir gingen betont langsam, wobei ich wiederholt über die Schulter zurückschaute, um mich zu versichern, dass Frau Teofila nicht verloren ginge - eine völlig unbegründete Sorge, wie sich herausstellen sollte.
Smalltalk gab es für Reich-Ranicki nicht. Das Wetter war eben, wie es war, und ob der Flug angenehm war oder nicht, spielte für ihn auch keine Rolle. So kam er gleich zur Sache mit einer überraschenden Frage: Wen ich für den bedeutendsten deutschsprachigen Germanisten hielte, wobei er sogleich präzisierte: "Bedeutend" meine den mit der größten Breitenwirkung. Wir einigten uns rasch auf Peter von Matt. Mittlerweile hatte Frau Teofila zu meiner Beruhigung zu uns aufschließen können.
Auf der spätvormittäglichen Fahrt von Heathrow nach Bloomsbury war nur von Literatur, der Funktion und Bedeutung des Institute of Germanic Studies und Peter von Matt die Rede, aber nicht von der am Abend des folgenden Tages stattfindenden Großveranstaltung. Wir verabredeten uns für den späten Nachmittag zu Tee oder Sherry im holzgetäfelten, einem klassischen englischen Club nachempfundenen Bar-Bereich des Russell Hotels, um den Ablauf der Veranstaltung zu besprechen. Und noch im Empfangsbereich des Hotels übergab mir Reich-Ranicki einen Teil des Typoskripts von "Mein Leben" - mit der Auflage, bis zu unserer Teestunde Vorschläge für jene Passagen zu machen, die ich angesichts des zu erwartenden Publikums für die wirkungsvollsten hielte.
Es war wie bei meinen früheren Begegnungen mit ihm in seinem Redaktionsbüro in der Frankfurter Hellerhofstraße: Reich-Ranicki klang sehr bestimmt, fordernd und dabei verbindlich zugleich, oft einem Augenzwinkern nahe. Damals in London wie jetzt beim Aufschreiben dieser Erinnerung, angeregt durch die Nachricht von der überfälligen Ehrung des Andenkens an ihn und seine Frau durch die Stadt Frankfurt durch die Schaffung eines Reich-Ranicki-Platzes (F.A.Z. vom 12. Dezember), kam mir unsere erste persönliche Begegnung in den Sinn: im Frühjahr 1986 in diesem erstaunlich leer wirkenden Redaktionsbüro. Er saß hinter seinem Schreibtisch und schob eine Glaskugel mit dem darin eingelassenen Namen "Marcel" hin- und her, als liebkoste er sie und damit auch seinen Vornamen. Das Gespräch glich einer Prüfung: Mit einem Mal holte Reich-Ranicki aus einer Schublade eine faksimilierte Partiturseite und legte sie mir vor. Ob ich ihm sagen könne, um welche Komposition es sich da handele. Ich erkannte in ihr die erste Seite der Bach-Partita in E-Dur. Kaum zwei Wochen zuvor hatte ich sie gehört, gespielt von Itzhak Perlman bei einer der BBC Lunchtime Recitals in Londons Saint John's Smith Square. Reich-Ranicki war's zufrieden und meinte, ich könne dann und wann für ihn schreiben.
Dieses Prüfungsgespräch hatte für mich damals etwas von einer Initiation. Doch nun, fünfzehn Jahre danach, am Russell Square, wo ich vor Kurzem erst mein Büro im obersten Stock des Hauses Nummer 28, in dem eine Szene in William Thackerays Roman "Jahrmarkt der Eitelkeiten" spielt, beziehen konnte, stand eine Probe ganz anderer Art an.
Vor unserer Besprechung fragte mich Reich-Ranicki, wo denn am Russell Square das Verlagshaus Faber & Faber seinen Sitz hatte und T. S. Eliot sein Büro. Ich zeigte es ihm von der Treppe des Hotels aus durch die entlaubten Platanen: Dort oben war es, im Haus Nummer 24. Er schien befriedigt. Ich dachte: Literaturpäpste unter sich, über die Zeiten hinweg. Ob es hier auch gewesen sei, dass Eliots erste Frau heiße Schokolade in den Verlagsbriefkasten gekippt habe? Darauf wusste ich keine Antwort. Jedenfalls habe er mit seiner Frau mehr Glück gehabt, überbrückte er meine Wissenslücke gnädig.
Wir besprachen den morgigen Ablauf und die zu lesenden Passagen. Ich konnte vermelden, dass die Zahl der Rückmeldungen mehr als erfreulich sei und einen nahezu vollen Vortragssaal verspreche. Nach der Lesung würde es keine Fragerunde geben, sondern gleich zum Dinner gehen, wiederum im Russell Hotel, mit ungefähr zwanzig Gästen. Wie wichtig Reich-Ranicki die Auswahl der vorzulesenden Texte war, zeigte sich darin, dass er mich bat, die von uns vereinbarten Stücke mit nach Hause zu nehmen und bis morgen noch einmal zu prüfen. Abermals ließ er den Begriff "Urlesung" fallen, ein Umstand, der ihm sichtlich bedeutsam war.
Die Lesung wurde tatsächlich ein Ereignis, und zwar aus einem ganz besonderen Grund. Der gefürchtete Kritiker und große Stilist mit sprichwörtlichem Temperament und ebenso theatralischen Gesten trat hier in London ganz anders in Erscheinung: mehr Marcel als Reich-Ranicki sozusagen. Er spürte, vor welchem Publikum er las: Viele Emigranten der ersten Generation hatten sich zu diesem Anlass eingefunden, auch Reich-Ranickis Schwester, die in Hampstead wohnte und von der niemand etwas wusste; in "Mein Leben" kommt sie nicht vor. Sein Sohn Andrew, der Mathematiker, war aus Edinburgh mit seiner Familie angereist. Und auch Frank H. Auerbach war gekommen, der bedeutende Künstler, der 1939 als Achtjähriger auf einem der Kindertransporte noch England erreicht hatte, ein Cousin Marcel Reich-Ranickis. Die Londoner Germanisten schienen nahezu vollzählig versammelt, Vertreter der deutschen Kulturinstitute, der Botschaft, Kulturkorrespondenten deutschsprachiger Zeitungen, unter ihnen Gina Thomas, so ich's erinnere.
Reich-Ranicki las, wie man ihn bis dahin zumindest im Fernsehen nie gehört hatte: milde, in einer geradezu sanften Aussprache, diskret melodisch seine Sätze phrasierend. Er erlaubte sich keinen einzigen erläuternden Satz aus dem Stegreif; es zählte das gesprochen-geschriebene Wort.
Eine musikalische Umrahmung war nicht vorgesehen; sie wäre auch nicht nötig gewesen. Aber während der Lesung und nachher beim festlichen Dinner stellte sich in mir unwillkürlich Bachs Partita in E-Dur ein.
Rüdiger Görner, geboren 1957, lehrte bis zur Emeritierung Literatur in London.
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