Besprechung vom 28.07.2025
Angeln im Abgrund
Annika Büsing schaut in ein Schwarzes Loch
Philipp hat seine Mutter ganz oben ins Regal hingestellt. Sie ist kaum zu erreichen, und das ist auch ganz gut so. Manche Erinnerungen müssen ganz nach oben, sonst kommt man ja zu nichts, sagt seine Oma. Das Problem an Philipps Mutter ist: Sie ist denkbar schlecht im Stillhalten. Und wann sie ihm auf oder vielmehr in den Kopf fällt, entscheidet sie.
Philipp ist 17 Jahre alt, er lebt zusammen mit seinem Vater, der ein erfolgreicher Chirurg und auch sonst überaus gut im Funktionieren ist, und dessen Freundin. Seine Mutter zog vor neun Jahren aus, verschwunden ist sie aus seinem Leben damit aber noch lange nicht. Und so beginnt Annika Büsing ihre Geschichte mit einem Anruf der Polizei: Die Mutter ist wieder einmal abgetaucht, ihr Auto irgendwo in der Nähe des Chiemsees. Als sein Vater ihm das erzählt, fragt Philipp routiniert ein paar Mal nach, dann sagt er, er müsse noch Französischhausaufgaben machen.
Mit "Wir kommen zurecht" zoomt Büsing in das Leben einer Familie, die sich im Ausnahmezustand eingerichtet hat. Sie leben in ihren eigenen Normalitäten: Philipp hat gute Noten, eine undefinierte Liebesbeziehung, einen besten Freund, mit dem er gelegentlich auf dem Friedhof kifft, täglich um die 200 Nachrichten im Klassenchat - und eine Mutter, bei der man nie weiß, was sie in ihren manischen Phasen als Nächstes vorhat. So wie vor neun Jahren, als sie ihn spontan aus der Schule abholte, um mit ihm in den Urlaub zu fahren, oder ein paar Jahre zuvor, als sie plötzlich nachts vor dem Haus seiner Großeltern herumschrie und ihn mitnehmen wollte. Es ist für Philipp also alles nichts Neues.
Mit einem feinfühligen, präzisen Blick schaut Büsing auf den Pragmatismus, den Vater und Sohn teilen. Sie erzählt die Geschichte derer, die oft zu kurz kommen, wenn jemand erkrankt: die Angehörigen. Die Mutter, so lässt sie es ihren Protagonisten einmal formulieren, sei ein Schwarzes Loch, um das sie alle herumsitzen und vergeblich versuchen zu angeln. Es ist eines von vielen Sprachbildern, mit denen Büsing ihre Geschichte schmückt, ohne sie damit zu überladen. Philipp begreift sich wiederkehrend als Wassermensch, "durchsichtig, durchlässig" für alle Emotionen, alle schmerzhaften wie schönen Erinnerungen, die immerzu um seine Mutter kreisen, scheinbar unfähig, aus diesem Zustand der absoluten Passivität herauszukommen.
So muss der Leser eben zu ihm kommen. Büsing lässt sich Zeit mit Erzählen, gibt ihren Lesern ein Gefühl dafür, wie es ist, im vorausgehenden Schatten des Unheils zu verharren. Von Tristesse ist die Geschichte trotzdem nicht geprägt. Im Gegenteil: Oft sogar ist sie sehr lustig, was auch an der schönen Männerfreundschaft liegt, die Büsing zwischen ihrem Protagonisten und seinem besten Freund Lorenz entwirft. Die beiden küssen sich auf die Wange und die Haare, schreiben "Für mein Schneckchen" auf Geburtstagskuchen und sind überhaupt: ungeheuer liebevoll miteinander. Sie sind sich so vertraut, dass Lorenz nicht mehr fragen muss, warum Philipp sich gelegentlich zurückzieht, sehr wohl aber regelmäßig fragt, ob er heute schon gefrühstückt hat. Büsing gelingt es, ihre Dialoge so authentisch und unverkrampft darzustellen, wie sie selten zu lesen sind.
Was bei ihnen fehl am Platz wäre, holt Büsing im Erzählerischen nach. Fast schon poetisch sind ihre Sätze zuweilen: "Philipp sprach mit Gott und dem Teufel und kotzte anschließend ins hohe Gras." Und auch sonst befreit sie sich immer wieder vom Pfad der klassischen Erzählweise, springt vom Präteritum ins Präsens, wenn Eindrücklichkeit geboten ist, oder nimmt die Perspektive von Nebencharakteren ein. Mal ist das Onno, der neue Ex-Freund der Mutter, mal die Schwester des besten Freundes. Zeitweise droht die Handlung dadurch auszuufern - nach vorn drängt sie jedenfalls nicht.
Dafür, und das wird ihrem Inhalt gerecht, gewinnt sie an Tiefe. Und in dieser Tiefe passiert eben doch ganz viel, allen voran mit Philipp. Spätestens, als es an der Tür klingelt, wie nur eine an der Tür klingeln kann. "Zu funktionieren ist wie Magie", denkt Philipp einmal. Er wird lernen, dass es Dinge gibt, die noch besser sind als Magie. ANNA NOWACZYK
Annika Büsing: "Wir kommen zurecht".
Roman.
Steidl, Göttingen 2025. 288 S., geb., 24,- Euro. Ab 16 J.
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