Ken Follett hat sich längst als Baumeister des historischen Epos etabliert, und nun wagt er sich in eine Zeit, in der Geschichte noch gar nicht geschrieben wurde. In Stonehenge. Die Kathedrale der Zeit erzählt er von einer Welt, die ihre Ordnung aus Sonne, Hunger und Aberglauben bezieht. Um 2500 vor Christus bevölkern Bauern, Hirten und Sammler das karge Land, und irgendwo zwischen ihnen entsteht die Idee, ein steinernes Monument für den Himmel zu errichten.Was Follett hier unternimmt, ist ein ebenso kühnes wie riskantes Experiment: Er schreibt historische Fiktion ohne Geschichte, er baut erzählerisch auf Sand. Und doch gelingt es ihm, dieser prähistorischen Welt Gestalt zu geben, indem er ihre Menschen in den Mittelpunkt rückt. Seft, ein begabter Flintarbeiter, und Joia, eine junge Priesterin mit visionärem Blick, verkörpern den Urkonflikt zwischen Glauben und Handwerk, zwischen Geist und Materie. Ihre Beziehung ist keine Liebesgeschichte im romantischen Sinn, sondern eine Allianz im Namen des Fortschritts, getragen vom Drang, etwas zu schaffen, das größer ist als sie selbst.Follett ist ein Meister darin, alltägliche Mühsal erzählerisch aufzuladen. Man spürt in jeder Seite die körperliche Anstrengung seiner Figuren, das Ziehen, Schleppen und Ringen mit der Natur. Das Lesen gleicht manchmal selbst einem mühseligen Transport, weil Follett die Wiederholung liebt, weil er jede Geste, jedes Handwerkliche auskostet, bis auch der Leser erschöpft ist. Wer seine ausgreifenden Bauprojekte wie Die Säulen der Erde liebt, wird hier ein vertrautes Echo hören. Doch wer Straffheit erwartet, wird ungeduldig werden.Seine Figuren bewegen sich in einer Welt, die so weit entfernt scheint und doch merkwürdig vertraut wirkt. Die Konflikte zwischen den Stämmen über Ressourcen, Macht und Glauben erinnern an moderne Gesellschaften, die um dieselben Fragen kreisen. Man könnte sagen, Follett verlegt die Gegenwart in die Vorgeschichte. Dass seine Charaktere dabei oft zeitgenössisch denken und sprechen, stört kaum, weil diese Anachronismen den emotionalen Zugang erleichtern.Es ist ein Roman der Gegensätze: archaisch und modern, monumental und schlicht, spekulativ und handfest. Folletts Sprache bleibt überraschend einfach, manchmal zu einfach, als wolle er seine Erzählung wie ein mythisches Gleichnis verstanden wissen. Gerade darin liegt aber auch ihre Kraft. Sie erhebt sich nicht über die Figuren, sondern steht mit ihnen im Lehm, im Rauch und im Schweiß.Wenn der Bau des Steinkreises endlich Gestalt annimmt, wenn die Gemeinschaft trotz Rivalität und Leid zu etwas Größerem findet, entfaltet der Roman jene erzählerische Gravitation, die man von Follett kennt. Dann spürt man, dass es hier nicht nur um die Errichtung eines Monuments geht, sondern um die Geburt einer Idee: dass Kultur immer dort beginnt, wo Menschen gemeinsam das Unmögliche versuchen.Follett hat kein perfektes Buch geschrieben, aber eines, das in seiner Unvollkommenheit überzeugt. Stonehenge. Die Kathedrale der Zeit ist keine archäologische Rekonstruktion, sondern ein poetischer Entwurf über den Ursprung des Zivilisationsgedankens. Man liest es mit Bewunderung, gelegentlich mit Ermüdung, und legt es schließlich mit jenem leisen Staunen aus der Hand, das große Literatur immer hinterlässt.Ken Follett bleibt der Baumeister unter den Erzählern. Und manchmal genügt schon ein einziger Stein, um uns daran zu erinnern, dass selbst Mythen aus Menschenhand gemacht sind.