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Besprechung vom 12.09.2022
Pikettys Traum vom Mindesterbe
Über die Geschichte der Gleichheit
Drei Bücher von monumentalem Umfang hat der französische Starökonom Thomas Piketty in den vergangenen beiden Jahrzehnten vorgelegt: Zuerst im Jahr 2001 ein Buch über die Ungleichheit in Frankreich ("Les hauts revenus en France au XXe siècle"), dann 2013 sein wohl bekanntestes Buch "Das Kapital im 21. Jahrhundert" und schließlich 2020 "Kapital und Ideologie". Die Bücher sind jeweils um die 1000 Seiten lang, was viele Leser abschreckt. Weil Piketty das selbst eingesteht, hat er nun - wie er selbst sagt - eine Art Resümee seiner Arbeit auf knapp 300 Seiten vorgelegt: "Eine kurze Geschichte der Gleichheit" heißt das Buch, das Interessierten einen kompakten Einblick in den Kosmos des linken Ökonomen gibt.
Aus seiner aktivistischen Einstellung macht der Bestsellerautor keinen Hehl. Der Ton wird gleich zu Beginn gesetzt: Ökonomische Fragen seien "zu wichtig, um sie einer kleinen Kaste von Spezialisten und Führungspersonal zu überlassen", schreibt er. Es gehe um die "Änderung der Machtverhältnisse". Am Ende des Buches ruft er seinen Lesern zu, ohne aktive Bürger könnten die Kräfteverhältnisse nicht verschoben werden. Die bisherigen Erfolge auf dem Weg zu mehr Gleichheit seien die Konsequenz sozialer Kämpfe, die möglich gemacht hätten, Institutionen zu stürzen. Noch immer komme das internationale Rechtssystem "meist einem Neokolonialismus zugunsten der Reichen gleich".
Wer sich von dem oft klassenkämpferischen Duktus nicht abschrecken lässt, für den enthält das Buch aber durchaus Interessantes und teils Lehrreiches. Piketty zeichnet mit einer Fülle interessanter Daten (vor allem langen Zeitreihen) über Einkommen, Vermögen, Erbschaften, Bildungsinvestitionen und Steuersätzen die großen Linien der historischen Entwicklung nach. Anders als Karl Marx sieht er die kapitalistische Welt nicht zwangsläufig auf dem Weg zu einer immer höheren Vermögensungleichheit. Im Mittelpunkt des jetzt vorgelegten Buches stehen auch keine theoretischen Debatten, ob die Kapitalrendite nun größer ist als das Wirtschaftswachstum. Die langfristige Entwicklung sieht er durchaus positiv: Langfristig - so schreibt er - "gibt es eine historische Bewegung hin zur Gleichheit, zumindest seit dem Ende des 18. Jahrhunderts". Die Welt im Jahr 2020 sei viel egalitärer als 1950 oder 1900, die "ihrerseits in zahlreichen Hinsichten egalitärer war als die Welt von 1850 oder 1789". Dazu haben laut Piketty drei Gründe beigetragen: das Ende des Kolonialismus, der Aufbau des Sozialstaats und die Erfindung progressiver Steuersysteme. Noch im 19. Jahrhundert seien die Steuern dagegen regressiv gewesen, Arme haben also einen höheren Anteil ihres Einkommens abgeben müssen als Reiche.
Obwohl er einen historischen Trend zu mehr Gleichheit anerkennt, warnt er davor, darüber schon in Jubel auszubrechen. Zwar sei es vielen Armen in den vergangenen 200 Jahren gelungen, erstmals aufzusteigen. Bis ins beginnende 20. Jahrhundert habe es noch überhaupt keine wirkliche Mittelschicht gegeben. Doch eben längst nicht allen hätten die Tore zum Aufstieg offengestanden: "Die ärmsten 50 Prozent haben praktisch nie etwas Nennenswertes besessen", schreibt er: "Die Vorstellung, man brauche nur abzuwarten, bis das Wachstum für allgemeinen Wohlstand sorge, ergibt wenig Sinn." Auf dem langen Weg zu einem Staatswesen nach seiner Idealvorstellung eines "partizipativen Sozialismus" sieht er die Welt erst auf etwa halber Strecke angelangt. Piketty träumt von einer "Entmarktung" der Wirtschaft. Er fordert den weiteren Ausbau des Sozialstaats und deutlich höhere Einkommensteuern für Reiche. Spitzensteuersätze von 80 bis 90 Prozent hält er keineswegs für überzogen, er verweist darauf, dass es solche Sätze ansatzweise schon bis Ende der 70er Jahre in den USA und Großbritannien gab.
Wie radikal er denkt, zeigt auch sein Traum von einem Mindesterbe für alle, den er in dem Buch abermals präsentiert. In seinen Augen könnte ein solches Minimalerbe bei 60 Prozent des Durchschnittsvermögens eines Erwachsenen liegen. So kommt er mit Blick auf sein Heimatland Frankreich auf ein Minimalerbe in Höhe von etwa 120 000 Euro, das jedem im Alter von 25 Jahren ausbezahlt werden soll, finanziert aus Vermögensteuern. Ähnliche Ideen hatten vor ihm schon der britische Ungleichheitsforscher Tony Atkinson, der sich dabei wiederum auf den Philosophen Thomas Paine, einen der Gründerväter der Vereinigten Staaten, berief.
Liberales Denken kritisiert er durchweg, sein Feindbild ist intakt: der "Neoliberalismus". Interessanter als seine Politikempfehlungen sind seine wirtschaftshistorischen Rückblicke. Lesenswert ist etwa das Kapitel über das Erbe der Sklaverei und des Kolonialismus. Darin präsentiert er interessante Zahlen zum Aufstieg und Niedergang der Sklaverei in Amerika. Und er überrascht mit wenig bekannten Fakten: Als in Haiti Anfang des 19. Jahrhunderts nach einem Sklavenaufstand zum ersten Mal in der Neuzeit die Sklaverei abgeschafft wurde, setzte Frankreich Entschädigungszahlungen durch. Geld bekamen aber nicht die Sklaven, sondern die ehemaligen französischen Sklavenbesitzer für den Verlust ihres "Eigentums". Rund 125 Jahre lang zahlte Haiti dafür Schulden ab, erst Anfang der 1950er Jahre war die letzte Rate getilgt. Piketty fordert von Frankreich, dafür eine Wiedergutmachung in Höhe von 30 Milliarden Euro zu zahlen. Man muss sich solche Forderungen nicht zu eigen machen, aber der Hinweis auf solch dunkle und eher unbekannte Kapitel der Geschichte ist durchaus statthaft. TILLMANN NEUSCHELER
Thomas Piketty: Eine kurze Geschichte der Gleichheit, C. H. Beck, München 2022, 264 Seiten
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