Besprechung vom 17.03.2020
Der erste Schritt ist die Anerkennung eigener Verantwortung
Über den Umgang mit Geschichte: Susan Neiman geht der Frage nach, ob die Vereinigten Staaten aus deutscher Vergangenheitsbewältigung lernen können
"Ich habe mein Leben als weißes Mädchen im segregierten Süden begonnen und werde es wahrscheinlich als jüdische Frau in Berlin beenden." Gleich mit dem ersten Satz steckt Susan Neiman in ihrem Buch den Bogen ihres Themas ab. Das sperrige Wort von der deutschen Vergangenheitsaufarbeitung übersetzt die Leiterin des Berliner Einstein Forums für ihre amerikanischen Leser mit "working off the past", die Vergangenheit abarbeiten also. Und sie fragt, ob in dieser Arbeit der letzten siebeneinhalb Jahrzehnte Lehren oder Anregungen stecken könnten für die amerikanische Gesellschaft. "Was den Juden vor zwanzig Jahren angetan wurde, bringt uns heute noch auf, und wir würden Eichmann am liebsten töten. Niemand sagt ihnen, sie sollen die Vergangenheit vergessen", sagte Bürgerrechtler Malcolm X während des Prozesses gegen Adolf Eichmann in Jerusalem 1961. Auch andere schwarze Aktivisten zogen gelegentlich Parallelen zwischen der Situation von Juden in der Nazizeit und Afroamerikanern.
Susan Neiman wurde 1955 in Atlanta geboren, lehrte Philosophie in Tel Aviv und Yale. In den achtziger Jahren ging sie nach Berlin. In ihrem Buch macht sie den Versuch, den Umgang mit Holocaust und Sklaverei zu vergleichen. Ihre eigene Geschichte verknüpft sie mit einem Überblick über die Geschichte der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit. Von den gescheiterten Bemühungen um eine Entnazifizierung der Behörden, über den Auschwitz-Prozess bis hin zur Wehrmachtsausstellung und zur Diskussion um das Berliner Holocaust-Mahnmal arbeitet Neiman heraus, wie mühsam und unabgeschlossen die Auseinandersetzung mit den deutschen Verbrechen war und ist. Sie bezieht dabei auch die ehemalige DDR ein, deren juristische und politische NS-Aufarbeitung konsequenter gewesen sei. Ost und West müssten die Schwächen und Stärken der jeweils anderen Seite anerkennen, so Neiman. Eine Parallele zwischen Deutschen und Amerikanern sieht sie in der Neigung, sich selbst als Opfer darzustellen, die im Westen die ersten Nachkriegsjahrzehnte prägte. Im amerikanischen Süden halten sich bis heute romantisierte Darstellungen des Bürgerkrieges als Kampf um einen erhaltenswerten Lebensstil.
Das Buch lässt zahlreiche Interviewpartner zu Wort kommen. Gelegentlich scheinen auch die Konflikte um die deutsche Vergangenheit in diesen Gesprächen durch. Der ehemalige DDR-Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer nennt etwa die Memoiren von Joachim Gauck "unehrlich", weil der sich nur über die Gefangennahme seines Vaters durch die Sowjets beklage, aber nicht deren Grund reflektiere. In den Vereinigten Staaten befragt Neiman Bryan Stevenson, den Gründer der Gedenkstätte für die Opfer von Lynchmorden, und trifft Wheeler Parker, einen Cousin des 1955 ermordeten Teenagers Emmett Till. Daneben kommen zahlreiche Aktivisten und Akademiker zu Wort, die für einen wahrhaftigeren Umgang mit der eigenen Geschichte kämpfen. Die meisten befragten Deutschen tun sich erwartungsgemäß schwer damit, das eigene Beispiel als "Vorbild" zu empfehlen, berichtet Neiman. Alle hätten laut gelacht, als sie ihnen den Titel ihres Buches verraten habe.
Beide Pfade der NS-Aufarbeitung in Deutschland werden indessen nicht als Erfolgsgeschichte präsentiert, sondern als anhaltende Auseinandersetzung. Ein "Rezept" leitet Neiman nicht ab, wohl aber Anregungen. Das fundamentalste Element erweist sich dabei als das schwierigste, wie sie anhand von Mississippi und anderen Südstaaten zeigen kann. Die Anerkennung der eigenen Verantwortung stellt in Deutschland einen Mehrheitskonsens dar, der zwar nicht überall akzeptiert wird und immer wieder verteidigt werden muss. Im Süden der Vereinigten Staaten werden die Konflikte darüber aber gerade erst ausgefochten. Neiman besucht eine Initiative in Mississippi, die Menschen an einen Tisch bringen will, damit sie über Rassismus reden. Sie spricht mit Studierenden, die versuchen, Sezessionisten-Monumente an ihrer Universität loszuwerden, damit sie nicht jeden Tag an Statuen von Sklavenhaltern vorbeigehen müssen. Die Auseinandersetzung mit Tätern von Lynchmorden und rassistischem Terror im zwanzigsten Jahrhundert steht vielerorts erst am Anfang und passiert selten ohne Widerstand. Erst im vergangenen Herbst musste zum vierten Mal das Mahnmal für Emmett Till in Mississippi erneuert werden, weil es von Kugeln durchsiebt worden war.
Ein entscheidender Unterschied zwischen verfolgten Juden und den Afroamerikanern ist, dass die Nachkommen der Opfer der Sklaverei in Amerika leben, nicht überwiegend in anderen Ländern. Armut unter Schwarzen ist häufig bis heute auf die Zeit der Versklavung und der "Rassentrennung" im zwanzigsten Jahrhundert zurückführbar. Familien, in denen noch in der Großelterngeneration "sharecroppers" auf Baumwollfeldern arbeiteten oder in denen mehrere Männer für geringfügige Vergehen in Haft sind, können nicht das Vermögen aufbauen, das viele weiße Amerikaner über Generationen erwirtschaftet haben. Systemische Ungerechtigkeiten ließen sich durch weitreichende Sozialreformen bekämpfen, wie sie Martin Luther King als Teil eines radikalen politischen Kampfes gegen die Armut forderte. Doch genug sei das nicht, findet Neiman - darüber hinaus müsse es Reparationen geben, die sich konkret an Nachfahren von Sklaven und an Opfer der Jim-Crow-Gesetze im vorigen Jahrhundert richteten.
Es ist nicht die Aufgabe von Philosophinnen, hier konkrete Politikkonzepte zu erarbeiten; aber diese Forderung wirft komplizierte Fragen nach dem Kreis der Berechtigten auf. Zum Beispiel waren und sind auch Schwarze, die erst im zwanzigsten Jahrhundert ins Land kamen, von systematischer Diskriminierung am Wohnungsmarkt, im Schul- und Justizsystem betroffen. Kompliziert heißt indessen nicht unlösbar - im amerikanischen Abgeordnetenhaus soll eine Kommission untersuchen, wie Reparationen aussehen könnten.
FRAUKE STEFFENS
Susan Neiman: "Von Deutschen lernen". Wie Gesellschaften mit dem Bösen in ihrer Geschichte umgehen können. Aus dem Englischen von Christiana Goldmann. Hanser Berlin Verlag, Berlin 2020. 576 S., geb.
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