Als ich im letzten Jahr in Venedig war, blieb mir besonders ein Moment im Gedächtnis: ein Schaufenster auf Murano, in dem das Licht auf winzigen Glasperlen tanzte. Jede schien ihre eigene Geschichte zu erzählen. Dieses Gefühl hat mich beim Lesen von Tracy Chevaliers "Das Geheimnis der Glasmacherin" sofort wieder eingeholt.Die Geschichte führt ins Jahr 1468. Nach dem Tod des Glasmeisters Lorenzo Rosso steht seine Familie vor einem Neuanfang. Seine Tochter Orsola darf die Werkstatt eigentlich nicht betreten, doch sie zieht es immer wieder zum Feuer, zu den Öfen, zum glühenden Material. Im Verborgenen lernt sie, Glasperlen herzustellen, und findet so einen Weg, das Erbe ihres Vaters weiterzuführen, gegen alle Regeln ihrer Zeit.Tracy Chevalier zeichnet die Welt der Glasmacher mit großer Sorgfalt. Man riecht den Rauch, hört das leise Knistern, sieht die schimmernden Farben entstehen. Doch die Geschichte bleibt nicht in dieser Epoche stehen. Orsolas Leben dehnt sich über Jahrhunderte, sie erlebt Pest, Kriege, Revolutionen und selbst die Gegenwart. Sie scheint nicht zu altern, wandert wie ein stiller Zeuge durch die Zeit, während andere kommen und gehen.Diese Idee hat mich gleichermaßen fasziniert und irritiert. Einerseits öffnet sie den Blick auf Venedigs Wandel, auf das, was bleibt, wenn Menschen und Zeiten vergehen. Andererseits bleibt Orsola dadurch auf Distanz, fast unnahbar. Ich hätte mir mehr Gefühl, mehr innere Bewegung gewünscht - weniger Beobachtung, mehr Leben.Trotzdem entfaltet der Roman eine leise Schönheit. Er zeigt Venedig jenseits des Postkartenbildes, als Stadt der Handwerker, der Geduld und der Erinnerung. Wer bereit ist, sich auf den ruhigen Rhythmus einzulassen, spürt beim Lesen etwas von der Zeitlosigkeit, die Murano umgibt.Fazit: Eine atmosphärisch dichte Geschichte über das Vermächtnis der Glaskunst und die Kraft des Durchhaltens. Historisch detailreich, ruhig erzählt, berührend in Momenten, aber nicht durchgehend fesselnd.