
Besprechung vom 31.10.2025
Unverstanden Selbstverständliches
Mit Wittgenstein: Axel Hutter macht sich auf anregende Weise philosophische Gedanken
Ludwig Wittgenstein hat Sätze zu Papier gebracht, die zu zitieren unwiderstehlich sein kann. Wie oft hat nicht der Schluss der 1921 veröffentlichten "Logisch-philosophischen Abhandlung" als Zierrat, ob passend oder nicht, Verwendung gefunden: "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen." Ein anderes Diktum aus derselben Schrift, mit weniger starkem Sog ins unabsehbar Tiefgründige, wird gerne herbeigerufen, wenn es um das Verhältnis von Wissenschaft und Lebenswelt, von wissenschaftlichem Wissen und Philosophie geht: "Wir fühlen, dass selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind."
Das Problem mit den nicht näher charakterisierten Lebensproblemen in der Perspektive des zitierten "frühen" Wittgenstein ist, dass sie sich nicht nur dem naturwissenschaftlichen Forschen und Erklären entziehen, sondern überdies auch von der Philosophie, die sich methodisch an wissenschaftlicher Rationalität ausrichtet, nicht wirklich berührt, jedenfalls nicht gelöst werden können. "Die Lösung des Problems des Lebens", heißt es darum einen Absatz später, "merkt man am Verschwinden dieses Problems." Das sei doch wohl, so erlaubt sich der Meister scharfsinniger Lakonik zu mutmaßen, der Grund dafür, "warum Menschen, denen der Sinn des Lebens nach langen Zweifeln klar wurde, [...] nicht sagen konnten, worin dieser Sinn bestand". Was sich nicht sagen lässt, zeigt sich also, und zwar im Verschwinden aufgetretener Probleme. Da macht sich bereits der therapeutische Blick bemerkbar, der den "späteren" Wittgenstein in seinen "Philosophischen Untersuchungen" zu der Devise gelangen lässt: "Der Philosoph behandelt eine Frage; wie eine Krankheit." Allerdings eröffnet sich die Möglichkeit einer solchen Behandlung nun nicht mehr als schweigsames Sichzeigen, sondern in der Beschreibung von Sprachpraktiken und ihnen zugehörigen Lebensformen. Eine solche "deskriptive" Philosophie nimmt nicht mehr Maß am naturwissenschaftlichen Erklären.
Axel Hutter interessiert sich dafür, wie unsere Lebensprobleme mithilfe philosophischen Denkens, Sprechens und Schreibens sich "berühren" und auch bearbeiten lassen. Sein Buch "Sprachanalyse und Metaphysik" ist keines über Wittgenstein, es führt, wie der Untertitel es ankündigt, in die moderne Philosophie ein. Doch bildet Wittgenstein darin den Dreh- und Angelpunkt - und dessen Satz über die Lebensprobleme eine der Gelenkstellen. Genaugenommen handelt es sich freilich weder um eine Einführung im lehrbuchmäßigen Sinn (etwa eines Überblicks) noch um eine Einführung in die "moderne Philosophie", wenn darunter, wie sich eingebürgert hat, die mit Descartes im siebzehnten Jahrhundert einsetzende Periode des Denkens begriffen wird, die wahlweise mit dem neunzehnten Jahrhundert endet oder bis heute fortdauert. Der sorgsam formulierende Autor begibt sich auf einen originellen Gedankengang; auf ihm können ihn auch in der Philosophie noch wenig Bewanderte durchaus begleiten.
Mit der Wende zur Analyse der Sprache - mit Wittgenstein und seinen Vorarbeitern Frege und Russell - lässt Hutter die moderne Philosophie beginnen; mit einer Wende, die sich als kritische Abwendung von "traditioneller" Metaphysik vollziehe, die aber als Hinwendung zum Leben und seinen Problemen zugleich die Möglichkeit einer "neuen" Metaphysik mit sich bringe. Es sei dies - und das ist eine der Pointen - eine Metaphysik des "Diesseits", des "Selbstverständlichen", in dem wir uns alltäglich bewegten, das als solches aber zunächst und zumeist unverstanden bleibe und also verständlich lediglich erscheine. Einige Grenzbegriffe, denen eigene Kapitel gewidmet sind, säumen sozusagen die Sphäre des Selbstverständlichen: Welt, Zeit, Ich, Freiheit. Ohne sie kämen wir sprachlich existierende Wesen nicht aus, deren Gehalt aber lasse sich nicht vollständig erläutern oder erklären.
Dieses unverstandene Selbstverständliche ist das eigentliche Thema der Philosophie, wie Hutter sie versteht, kein Thema jedoch der (empirischen) Einzelwissenschaften, die vielmehr das Unbekannte und Unvertraute untersuchten. Zum Grundbestand des Selbstverständlichen gehört für den an der Ludwig-Maximilians-Universität in München lehrenden Philosophen zuallererst die Sprache. Er nennt sie ein "Urphänomen" und hat den ebenso alltäglichen wie staunenswerten Umstand vor Augen, dass Menschen sich miteinander verständigen, dass sie ihren sprachlichen Artikulationen wechselseitig "denselben Sinn" entnehmen können. Von solchem Sinnverstehen schlägt er den Bogen zum "Sinn des Ganzen", nach dem zu fragen die Aufgabe der "Philosophie als Metaphysik" sei.
Die Frage nach dem Sinn des Ganzen ist selbstredend keine ganz neue. Aber das spricht nicht dagegen, sie auch einer neuen, kritischen, sprachanalytisch versierten und "beschreibenden" Metaphysik in Obhut zu geben. Philosophie macht sich damit womöglich zur Therapeutin, jedenfalls zur Anwältin - zur Fürsprecherin eines Bedürfnisses, das spürbar auch und vielleicht erst dann wird, wenn alle alltäglichen Bedürfnisse befriedigt sind. Hutter spricht, wie andere vor ihm, von einem "metaphysischen Bedürfnis"; man darf es wohl auch Sinnbedürfnis nennen. Geweckt wird es, sobald ein Sinnlosigkeitsverdacht gegenüber "dem Ganzen" sich meldet. Überdeckt wird es durch Gleichgültigkeit gegenüber aufkommenden Zweifeln am Lebenssinn. Philosophie, so steht es im letzten, dicht gewobenen Kapitel, sei "nichts anderes als der immer wieder erneuerte Widerstand gegen diese Gleichgültigkeit".
Man kann Axel Hutter nicht vorwerfen, die finalen Pointen durch übermäßige Erläuterung zu zerreden. Das allerletzte Wort in seinem sehr lesenswerten Buch lautet nicht "Widerstand", sondern "Dankbarkeit". Weil die nach dem Sinn des Ganzen fragende Metaphysik uns auf das Erstaunliche im scheinbar Selbstverständlichen aufmerksam werden lasse und das Leben in das "Licht einer Bedeutsamkeit" tauche, sei sie "auch eine Form der Dankbarkeit". Offen bleibt, ob die Metaphysik den Dank im Namen von uns allen abzustatten berechtigt ist; offen auch und vor allem, wem sie Dankbarkeit bekundet. UWE JUSTUS WENZEL
Axel Hutter: "Sprachanalyse und Metaphysik". Eine Einführung in die moderne Philosophie.
Verlag C.H. Beck, München 2025. 267 S., br.
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