
Besprechung vom 19.11.2025
Im Nebel des Daseins
Inspiration im Rausch? Ach was! Nach fast hundert Jahren erscheint der elend konsequente Roman "Die Frau, die trinkt" von Colette Andris erstmals auf Deutsch.
In Frankreich wurde "La femme qui boit" 2023 bei Gallimard in der Reihe "L'Imaginaire" wiederveröffentlicht, nach fast einem Jahrhundert; zuerst erschien der schmale Roman 1929. Jetzt publiziert ihn der Wagenbach Verlag auf Deutsch als "Eine Frau, die trinkt". Gleich der erste Satz beglaubigt die Protagonistin als genau das, was sie ist: "Guita ist eine Frau, die trinkt." Nichts anderes, nichts weniger, aber auch nichts mehr ist Guita. Sie ist kein "rotgesichtiges Mannweib", vielmehr eine jener "schönen, grazilen und eleganten Frauen, die stets ziellos geblieben sind, weder die Liebe noch ihre Berufung gefunden haben und nach und nach begannen zu trinken, um jenen Schwebezustand zu erreichen, in den die Verantwortung sich verflüchtigt, sinnlichster Nebel das Dasein und dessen Belanglosigkeiten umgibt, und alles in einer billigend hingenommenen Leere zu zerfließen scheint".
Guita kommt aus einem großbürgerlichen Elternhaus. Weil ihr Vater dem "drängenden Begehren" in ihr nach einem Schmetterlingsnetz nicht nachgibt, betrinkt sie sich - zum ersten Mal - im Alter von acht Jahren aus Rache mit Rotwein aus einem Fass im Keller. Mit sechzehn Jahren wird sie, umnebelt von Absinth und Champagner, von ihrem vermögenden Freund entjungfert, den sie auch heiratet, ohne ihn zu lieben. Mit zweiundzwanzig ist sie Witwe. Das in ihr früh erwachte, nicht beherrschbare "Begehren" treibt sie an zu promiskuitiven Begegnungen, deren Geschmack ihr immer schaler wird.
Es beginnt Guitas unaufhaltsamer Abstieg über vier Jahre in die Hölle immer neuer Alkoholräusche, bis ihr Geist und ihre Schönheit erlöschen. Der Roman, der eigentlich keiner ist - und keine Ich-Erzählerin hat, aber Guitas Perspektive einnimmt -, verfolgt in einzelnen Miniaturen ihre jeweiligen Zustände von Trunkenheit mit der überscharfen Selbstbeobachtung, die der Alkohol und die quälenden Stadien der Nüchternheit bei ihr hervorrufen. Der Stil ist uneinheitlich, torkelnd manchmal ähnlich exaltiert wie seine Heldin. Die dafür gefundene Sprache verfügt über bildhafte Stärke, evoziert frappierende, nicht selten schmerzhafte Vorstellungskraft.
Die Verfasserin, die sich Colette Andris nannte, wurde 1901 in Marseille als Pauline Toutey geboren. Aufgewachsen wohl in bildungsbürgerlichen Verhältnissen, studierte sie Literatur, um dann Varietékünstlerin und Schauspielerin in ein paar Filmen zu sein. Sie war, wenn nicht die erste, so eine der ersten Nackttänzerinnen in Pariser Revuen, unter anderem in Les Folies Bergère, wo zur selben Zeit auch Josephine Baker auftrat. 1927 heiratete sie den zwanzig Jahre älteren André Georges Risler, was ihr finanziellen Freiraum gab. "La femme qui boit" wurde bei seinem ersten Erscheinen zum Erfolg, nicht als Skandal, sondern vielmehr, offenbar vor allem von damaligen Leserinnen so verstanden, als Zeugnis einer Enttabuisierung. 1936 starb Colette Andris, 35 Jahre alt, an Tuberkulose.
"La femme qui boit" ist ein Stück Avantgarde-Literatur. Die Luft war im Paris der Zwanzigerjahre von Alkohol und Rausch geschwängert, jener scheinbar ubiquitären ivresse. Colette Andris kann gut Charles Baudelaires "Les Fleurs du mal" und "Le Spleen de Paris" gekannt haben, Arthur Rimbauds "Le Bateau ivre" und Guillaume Apollinaires 1913 erschienene Gedichtsammlung "Alcools" gelesen haben. Die Sprache im Roman mag davon profitiert haben, in der Intensität der Beschreibungen, die mitunter, auch in der Poetisierung von Urbanität, ins Surreale gleiten.
Allerdings gibt es einen entscheidenden Unterschied: Während der Rauschzustand der Dichter im Kern doch auf Grenzüberschreitung im Schöpferischen und Sinnlichen zielt, verkommen Guitas Erregungen immer schneller zu abgestumpfter Wahrnehmung. Guita trinkt, weil sie keine andere Option hat. Das ist ihr Elend. Für ihre Bekenntnisse einer Trinkerin hatte Colette Andris also keine eigentliche literarische Vorlage. Darauf nicht zuletzt beruht das Erstaunen über ihren Text bis heute.
Guita verkehrt auch gar nicht in der vielbeschriebenen Bohème der Rive Gauche, sondern in den Lokalen rechts der Seine, den Cafés bis hin zu den billigen Bistros; sie mag es, wenn die Kellner sie kennen, ihr gleich bringen, wovon sie wissen, dass sie es braucht. Ihre Sucht ist in einigen Kapiteln unbarmherzig dargestellt: "Wenn Guita (zu viel) getrunken hatte, durchlief sie verschiedene Phasen dieses unsäglichen Zustands." Anfängliche "vollendete Eleganz in Ausdruck und Benehmen; ein zugewandtes, angemessenes Auftreten" mutieren zu "grenzenlosem Unverständnis", über "unbeherrschtes Lachen, die Suche nach grotesker Wahrhaftigkeit in allem" und "nur einsame Verzweiflung", endlich in "schweren, finsteren Schlaf": "Und schließlich das Erwachen, ein teigiges Grundgefühl zwischen Selbsthass und Verzweiflung."
Unter der unschönen Überschrift "Spasmen" sind Begegnungen mit diversen Männern memoriert, in schrecklicher Direktheit. Sie empfindet "den Drang nach rasendem Gebrüll, die vage Genugtuung, einen ungewöhnlich fremdartigen Zustand zu erleben". Guita sieht im Alkoholdelirium den Wahnsinn auf sich zukommen - und kann ihn nicht aufhalten.
Colette Andris verurteilt ihre Protagonistin nicht. Im Geständnisdiskurs von "Eine Frau, die trinkt" verbindet sich Auflehnung gegen herrschende Konvention und Sitte mit radikaler Rechenschaftsablegung. Ob darin eine Form von Befreiung, von Selbstermächtigung liegt, sei dahingestellt. Dem Übersetzer Jan Rhein, der auch das informative Nachwort verfasst hat, ist es gelungen, den eigenwilligen facettenreichen Duktus zu erhalten. ROSE-MARIA GROPP
Colette Andris: "Eine Frau, die trinkt". Roman.
Aus dem Französischen und Nachwort von Jan Rhein. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2025. 155 S., br.
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