Ein Meisterwerk über den unsichtbaren Kampf in uns allen. Es hat mich regelrecht umgehauen.
Haruki Murakamis Die Chroniken des Aufziehvogels sind kein einfaches Buch. Über weite Strecken wirken die Erzählstränge fast lose, die Figuren teils surreal und abstrus. Gerade Nutmeg (Muskat) und Cinnamon (Zimt) blieben für mich distanzierter. Aber dann gibt es diese anderen Figuren, die mich mitten ins Herz getroffen haben:May Kasaharamit ihrer jugendlichen Radikalität,Toruals scheinbar unscheinbarer Erzähler,der alte Leutnantmit seinen Kriegsgeschichten, oder der hässlicheUshikawaals genialer, eloquenter Schuft.Was Murakami hier entfaltet, ist ein Geflecht aus Alltäglichem, Historischem und Surrealem. Die banale Suche nach einer verschwundenen Katze öffnet den Weg zu Kriegstraumata, zu Abgründen und zu Momenten tiefster Menschlichkeit. Besonders stark fand ich, wie die Erzählung zeigt:Jeder Mensch kämpft seinen unsichtbaren Kampf und die, die uns lieben, tragen diesen Kampf mit.Murakamis Kunst hat sich mir besonders im Gegensatz zwischen Ushikawa und May Kasahara gezeigt. Ushikawa ist eine Figur, die ihr Schicksal längst kennt: ein Mann, den die Gesellschaft von Anfang an ausgeschlossen hat. Er ist hässlich, grotesk, verschlagen und gerade dadurch unheimlich real. Seine Tragik liegt darin, dass er sich seiner Außenseiterrolle bewusst ist und sie zugleich gnadenlos ausspielt. Er verkörpert die Seite des Lebens, in der Möglichkeiten längst erstickt sind.May Kasahara hingegen steht am Beginn ihres Lebens. Mit ihren radikalen Fragen nach Tod, Sinn und Leere erinnert sie uns an das, was wir im Alltag gern vergessen: dass das Leben nicht selbstverständlich ist und dass wir uns unseren Ängsten stellen müssen. Sie ist jung und frei, manchmal grausam ehrlich, und genau deshalb so beunruhigend lebendig.In diesen beiden Figuren spannt Murakami einen Bogen vom erstickten Schicksal bis zur ungezügelten Offenheit. Dass beide gleichermaßen glaubwürdig, fesselnd und berührend wirken, ist eine enorme schriftstellerische Leistung. Er macht deutlich: Wir alle bewegen uns irgendwo zwischen diesen Polen und genau darin liegt die menschliche Wahrheit, die dieser Roman so meisterhaft einfängt.Ich will nicht zu viel verraten, aber: am Ende hat mich das Buch zu Tränen gerührt. Nicht aus Traurigkeit allein, sondern aus Dankbarkeit. Und ich denke, dass es langfristig etwas in mir verändert hat. Ich bin Murakami und auch der deutsche Übersetzerin Ursula Gräfe sehr dankbar dafür, dass sie so eine Meisterleistung auf Papier gebracht haben.Fazit: Kein Roman zum "Nebenbei-Lesen". Aber für alle, die bereit sind, sich einzulassen, ist Die Chroniken des Aufziehvogels eine Erfahrung, die Spuren hinterlässt.