Spurensuche in der Vergangenheit der stalinistischen Sowjetunion. Packende Familiengeschichte und Naturbeschreibungen.
Murmansk liegt auf der russischen Halbinsel Kola und ist 360 km vom Nordkap entfernt und 1.350 km von Moskau, aber der Arm der Regierung reicht bis in die letzten Winkel des Landes. Hier ist Juri 1971 geboren und kommt nun 2017 erstmals nach 23 Jahren in Amerika zurück in seine alte Heimat. Alle Verbindungen hatte er gekappt, aber dem Wunsch des ungeliebten Vaters Rubin, ihn noch einmal zu sehen, bevor er stirbt, kann Juri sich doch nicht entziehen. Rubin erzählt auf dem Sterbebett erstmals von seiner Mutter Klara, die er bereits mit fünf Jahren verloren hat und deren Verschwinden bis heute nachwirkt: Zu Beginn hatte Rubin seinen Vater Anton noch nach Klara gefragt, erhielt aber keine Antwort. "'Hast Du mich verstanden? Ich will keine Fragen mehr hören. Sei fleißig in der Schule und ein gute Kommunist, wenn du eine Zukunft haben willst. Vergiss deine Mutter!' [...] Er schwor sich noch einmal, nie wieder Angst zu haben. Aber Klara vergessen! Das war völlig unmöglich." (S. 188)Wie wirkt sich das Verschwinden einer geliebten Person auf die Kernfamilie und die Enkelgeneration aus? Autissier geht dieser Frage nach und schickt uns gemeinsam mit Juri auf die Suche nach Klaras Schicksal, das während der stalinistischen Ära einen ungeplanten Verlauf nahm. In einem zumindest teilweise ganz anderen Setting als in ihrem Debüt "Herz auf Eis" werden von Autissier erneut menschliches Verhalten, Moral und Naturbeschreibung zu einer spannenden Geschichte verwoben. Sprachlich hält uns die Autorin durch einen eher dokumentarischen Schreibstil auf Abstand, dennoch fiebert man mit und fragt sich, was noch alles ans Licht kommen wird. Den 350-Seiten-Roman hatte ich in zwei Tagen durchgelesen. Man muss noch lange über die Geschichte nachdenken, kann vieles verstehen, aber nicht alles verzeihen. Leseempfehlung!