
Der Sturz des Himmels ist ein alle Gattungen sprengendes, monumentales Werk: schamanisches Lehrstück, leidenschaftliche Verteidigung der Rechte indigener Völker und kompromisslose Verurteilung der Verwüstungen, die an Mensch und Umwelt begangen werden. Die Autobiografie des Schamanen Davi Kopenawa ist eine für das Menschheitsgedächtnis höchst bedeutende Erzählung, entstanden aus der jahrzehntelangen Freundschaft zwischen dem Schamanen und dem Anthropologen Bruce Albert: Zwischen 1989 und 2001 führten sie in unregelmäßigen Abständen Gespräche auf Yanomami, die sie auf Tonband aufnahmen und die von Albert transkribiert wurden. Albert gelang dabei auf geniale Weise, die lebendige und schillernde Rede des Davi Kopenawa in einer ebenso luziden wie literarischen Sprache zu fixieren: In ihr wird das Leben der Yanomami greifbar, ihre Kosmologie und ihr Schamanismus, ihre Auffassungen über Verwandtschaft, Krieg, Anführerschaft und Redekunst. Kopenawa verflicht kunstvoll literarische Gattungen und wissenschaftliche Disziplinen. In seiner Rede drückt sich aus, wie verwoben persönliche Geschichte und kollektives Schicksal sind.
Besprechung vom 13.10.2024
Vom vergeblichen Versuch, ein Weißer zu werden
Davi Kopenawas großes Buch ist ein indigenes Manifest und zugleich eine Ethnologie des Westens.
Von Cord Riechelmann
Davi Kopenawa, ein Angehöriger der Yanomami, eines Volkes, das im oberen brasilianischen Amazonasgebiet an der Grenze zu Venezuela lebt, hatte gesehen, wie die Weißen die Erde des Waldes aufrissen, um eine Straße zu bauen. Er hatte auch gesehen, wie sie die Bäume des Waldes fällten und den Wald niederbrannten, um dort Gras zu säen. Er kannte das leere Land und die Krankheiten, die sie auf ihrem Vormarsch zurückließen. Und trotzdem wusste er nur wenig über die Weißen.
Wozu sie wirklich fähig waren, das verstand Kopenawa erst, als die Garimpeiros, die Goldsucher, ins Gebiet der Yanomami einfielen. Sie kamen plötzlich von überallher, umzingelten ihre Häuser in großen Gruppen und suchten nach etwas Unheilvollem, von dem die Yanomami noch nie gehört hatten und dessen Namen sie unentwegt wiederholten: "oru", Gold. In Horden fingen die Garimpeiros an, die Erde in alle Richtungen zu durchwühlen. Sie verschmutzten die Flüsse mit gelblichem Schlamm und mit dem Öl aus ihren Maschinen. Andere Beobachter als Kopenawa erinnerte die Landebahn, die die Goldsucher in den Regenwald geschlagen hatten, an eine Kulisse aus dem Vietnamkrieg. Alle fünf Minuten startete oder landete ein Flugzeug, und ein nie endender Schwarm von Hubschraubern kreiste über dem tropischen Wald. Die Außenposten der brasilianischen Indio-Behörde waren verlassen. Spritzen und Medikamente lagen ungeordnet auf einem Haufen, dazwischen leere Bierdosen. Die Behandlungsprotokolle der medizinischen Station verwehten im Wind, das Funkgerät war verschwunden, und die Yanomami waren den Goldsuchern schutzlos ausgeliefert.
Der spektakuläre Goldrausch von 1987 bis 1989 wurde in mehrfacher Hinsicht zu einem Wendepunkt. Die internationale Aufmerksamkeit richtete sich auf die Yanomami, weil sie zu Hunderten nicht nur an den eingeschleppten Krankheiten starben, sondern auch durch die Gewalttaten des über ihr Land herfallenden Mobs, der vor Vergewaltigung und Mord nicht zurückschreckte. Die Yanomami schafften es sogar in die Schlagzeilen des "Wall Street Journals": Sie wurden im Blick der internationalen Öffentlichkeit zu emblematischen Opfern der Zerstörung des Amazonasgebiets.
Das Bild, das sich die Welt von den Yanomami macht, veränderte sich. Zuvor hatte vor allem die nordamerikanische Anthropologie dieses Volk als Beleg für gengesteuerte, soziobiologische Primitivität geführt. Und außerdem veränderte die Erfahrung des Einbruchs der "Erdesser", wie Kopenawa die Goldsucher nennt, in das Leben der Yanomami auch Kopenawa selbst. Denn "wenn man die Goldsucher überall graben lässt wie wilde Schweine", wie er sagt, "dann werden die Flüsse des Waldes bald nur noch morastige, mit Schlamm, Motorenöl und Abfall angefüllte Sümpfe sein".
Weil sie in den Flüssen auch ihr Goldpulver mit Quecksilber waschen, werden die Gewässer krank und "das Fleisch der Fische weich und faul". Wer es isst, läuft Gefahr, an der Ruhr zu sterben, "abgemagert, von Schmerzen durchbohrt und von Schwindelgefühlen gepeinigt". Die Herrscher der Wasser, die Geister der Rochen, der Zitteraale, der Anakondas, der Kaimane und der rosa Delfine werden alle in den verschmutzten Flüssen sterben und wieder ins Innere der Erde fliehen. "Wie können wir dann unseren Durst stillen?", fragt Kopenawa und gibt die Antwort selbst: "Wir werden alle mit ausgetrockneten Lippen sterben!"
Kopenawa wird nach dieser Erfahrung zu dem weltweit agierenden Yanomami-Schamanen und Aktivisten für die Sache der Amazonasindigenen, der er heute ist. Und er wird zum Mitautor dieses so einmaligen wie nachdenkwürdigen Buches, das einen als weißen Leser beschämt zurücklässt. Das liegt nicht allein an der treffsicheren Anthropologie des "weißen Mannes", die hier erfahrungsgesättigt entfaltet wird. Es liegt auch an der Anlage und der hervorragenden Übersetzung dieses Buchs, dem man auch nach mehrmaligem Lesen schlicht nicht gerecht werden kann.
Das gilt besonders für diese deutsche Ausgabe. Sie ist viel mehr als nur die Übersetzung des zuerst auf Französisch erschienenen Originals von 2010. Hinzu kommt ein Vorwort des brasilianischen Anthropologen Eduardo Viveiros de Castro zur 2015 veröffentlichten portugiesischen Ausgabe des Buchs. Viveiros hat selber jahrelang als Feldforscher im Amazonasgebiet gearbeitet. Eingearbeitet sind außerdem die Verbesserungen und Aktualisierungen, die der Ko-Autor Bruce Albert 2023 für die spanische Ausgabe des Buches vorgenommen hat.
So komplex wie diese deutsche Ausgabe, die über die Jahre hinweg immer mehr angereichert wurde, erscheint auch "Der Sturz des Himmels" selbst. Es handelt sich nicht einfach um die ethnologische Autobiographie eines indigenen Anführers und Denkers, wie es sie besonders von nordamerikanischen Indigenen in hervorragender Qualität schon gibt. Der französische Anthropologe Bruce Albert, ein langjähriger Begleiter von Yanomami-Gesellschaften, und der Schamane Davi Kopenawa haben das Buch in sich über vierzig Jahre erstreckenden Gesprächen zusammen entwickelt. Was dabei herausgekommen ist, nennt Viveiros in seinem Vorwort eine "Gegenanthropologie", die sich nur mit Claude Lévi-Strauss' für die Ethnologie revolutionärem Meisterwerk "Traurige Tropen" von 1955 vergleichen lasse und deren Fortschreibung von der anderen Seite sei. Während Lévi-Strauss 1936 aus einem der Zentren des europäischen Kolonialismus, aus Frankreich, nach Brasilien gegangen war, um zu Expeditionen in das bis dahin kaum bekannte Amazonasgebiet aufzubrechen, ging Kopinawa den Weg in entgegengesetzter Richtung.
Geboren wurde er um das Jahr 1956 herum in einem großen Gemeinschaftshaus mit etwa zweihundert Bewohnern im äußersten Nordosten des brasilianischen Bundesstaates Amazonas, nahe der Grenze zu Venezuela. Früh wurde er mit den Schrecken konfrontiert, die die Weißen mit sich brachten. Als Kind erlebte er, wie zwei aufeinanderfolgende Epidemien von Infektionskrankheiten seine Herkunftsgruppe dezimierten. Die eine der Epidemien wurde von Angehörigen der brasilianischen Indigenen-Schutzbehörde ausgelöst, die andere von Mitgliedern der "New Tribes Mission", einer nordamerikanischen evangelikalen Missionstruppe. Anfangs hatten die amerikanischen Missionare Kopenawa sogar fasziniert. Ihre Worte waren neu, von ihrem Gott hatte er noch nie gehört, von der Sünde auch nicht. Er verdanke ihnen, wie Albert in einer biographischen Notiz zu Kopenawa schreibt, "das Erlernen des Schreibens und einen wenig verlockenden Einblick in das Christentum". Mit dem Fanatismus der Missionare, ihrer Fixierung auf die Sünde, konnte Kopenawa nichts anfangen. Nachdem er dann die meisten seiner Verwandten durch eine von der Tochter eines der Pastoren übertragene Masernepidemie verloren hatte, büßte das Christentum für ihn jede Attraktivität ein.
Verwaist und entsetzt über den wiederholten Verlust geliebter Menschen, verlässt Kopenawa als Jugendlicher seine Heimatregion, um für die Indigenen-Behörde zu arbeiten. Fasziniert von der materiellen Macht der Weißen, habe er, wie er selbst sagt, versucht, "ein Weißer zu werden". Ein Versuch des Werdens, der ihm am Ende aber nur die Tuberkulose und einen langen Krankenhausaufenthalt einbringt. Wieder genesen, arbeitet er ein paar Jahre lang als Dolmetscher für die Indigenen-Behörde und lernt das Yanomami-Gebiet und dessen Bevölkerung in ihrer ganzen Ausdehnung kennen.
Des Herumreisens überdrüssig, lässt er sich Anfang der Achtzigerjahre schließlich in einem Yanomami-Dorf nieder. Er heiratet die Tochter des "Großen Mannes" der Gemeinschaft und lässt sich von diesem renommierten Schamanen selber in die Kunst der Schamanen einführen.
Es ist dieser Weg aus der Indigenenherkunft heraus, der ihn in die Gesellschaft der Weißen führte, und sein Weg zurück, der ihn mit der Entscheidung, ein Schamane zu werden, zum Traditionalisten seiner Leute werden lässt, die Kopenawas Biographie so singulär machen. Er ist in vielfachem Sinn ein indigener Überlebender, der von den kleinen wie großen Katastrophen der letzten Jahre erzählen kann. Das alles eingebettet in eine Kosmologie, deren poetisch-metaphysischen Fundamente sogar Anthropologen erst langsam zu verstehen beginnen.
Eines der Zentren dieser Kosmologie und dieses Denkens ist der Wald. Ein Wald aber, der mit dem, was wir darunter verstehen, so wenig zu tun hat wie der Hambacher Forst mit den Wäldern Amazoniens. Denn der Wald, den Kopenawa evoziert, ist nicht von allein, nicht ohne Grund gewachsen. Es ist sein "Fruchtbarkeitswert", der ihn lebendig macht und ihm Überfülle verleiht. Der Fruchtbarkeitswert "ist der wahre Meister des Waldes, und er versteht es, sich großzügig zu zeigen". Wenn er aber beschließt, die Flucht zu ergreifen, dann wächst nichts mehr, der Boden wird zu heiß, und sogleich nimmt der Wald den "Hungerwert" an. "Die Haut des Waldes ist schön und duftend, doch wenn man seine Bäume in Brand setzt, trocknet sie aus. Dann zerfällt die Erde in krümelige Klumpen und die Regenwürmer verschwinden."
"Wissen die Weißen das?", fragt Kopinawa in diese Geschichte hinein und fährt fort: "Die Geister der Regenwürmer sind die Besitzer des Waldbodens. Sobald man sie zerstört, dörrt der Boden aus." Auch wenn man von hier aus die Frage nicht beantworten kann, ob die Weißen das wissen, so kann man nach dieser Lektüre doch wissen, was Viveiros de Castro meinte, als er schrieb, der Animismus sei die einzige sensible Form des Materialismus. Denn darum handelt es sich bei diesem Buch über den Sturz des Himmels auf die ausgedörrte Erde: um ein Manifest des sensiblen Materialismus, um "eine schlagfertige und sarkastische Gegenanthropologie" zur Philosophie "der Weißen, des 'Volks der Ware' und seiner krankhaften Beziehung zur Erde", wie Viveirios in seinem Vorwort schreibt. Diese Gegenanthropologie tritt einem in der Ausstattung und Aufmachung dieses Buches aber so freundlich und höflich entgegen wie Kopenawa selbst, wenn er nun überall auf der Welt für ein tieferes Verstehen wirbt. Fragt sich nur, ob die Nachfahren der Goldsucher damit auch wirklich mehr anfangen können als diese selbst.
Davi Kopenawa, Bruce Albert: "Der Sturz des Himmels. Worte eines Yanomami-Schamanen". Aus dem Französischen von Karin Uttendörfer und Tim Trzaskalik. Matthes & Seitz, 958 Seiten
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