Seinerzeit hat mich der Roman Offene See über zwei ungleiche, unglückliche Seelen, die sich gegenseitig bereichern und guttun, sehr begeistert. Nun ein neuer, von DuMont wunderschön gestalteter und von Werner Löcher-Lawrence übersetzter Roman aus der Feder von Benjamin Myers den musste ich lesen.
Der 70-jährige Bucky Bronco lebt in Chicago. Er hat das Herz am rechten Fleck, ist aber in mehrfacher Hinsicht versehrt. Dringend braucht er seine hochdosierten Medikamente, um seine Hüftarthrose in Schach zu halten. Er lebt für die goldene Stunde ohne Schmerz, wenn die alte Ration noch und die neue schon wirkt. An eine Operation ist mangels Krankenversicherung nicht zu denken. Dazu befindet sich Bucky in tiefer Trauer, denn vor knapp einem Jahr ist seine geliebte Frau nach schwerer Krankheit verstorben. Diesen Verlust kann er nicht verwinden. Sein Leben lang war Bucky ein Gelegenheitsjobber. Nun klopft die Vergangenheit an die Tür, denn mit 17 Jahren hatte er eine vielversprechende Karriere als Soulsänger vor sich. Zwei erfolgreiche Songs hat er damals veröffentlicht, die in den USA zwar längst vergessen sind, doch in Europa offenbar nicht, denn Bucky wird ohne Vorwarnung ins englische Scarborough zu einem Soul-Festival eingeladen mit Übernahme aller Kosten. Er erkennt die Chance dieser Reise und bricht auf.
Auf der anderen Seite des Ozeans erwartet ihn seine Betreuerin Dinah, die ein begeisterter Fan seiner Musik ist. Auch für sie ist der Besuch ihres Idols eine einschneidende Sache, denn ihr Leben gestaltet sich ähnlich trist wie das von Bucky. Sie arbeitet in einem ungeliebten Brotjob, mit dem sie ihren nichtsnutzigen Mann Russell sowie den 17-jährigen Sohn Lee über Wasser hält. Beide Männer entsprechen machohaften Negativklischees. Schnell wird klar, dass Bucky und Dinah zwei unglückliche Gestrandete sind, die gut zueinander passen und sich hoffentlich gegenseitig helfen können.
Myers gestaltet sympathische, liebenswerte Charaktere, schildert gefühlvoll ihre Einsamkeit und ihren Schmerz und setzt sie in ein wunderschönes Ambiente. Scarborough liegt direkt an der Küste. Das Meer, die Gezeiten, das Geschrei der Möwen, das stilvolle alte Hotel, in dem Bucky unterkommt all das verbreitet Atmosphäre. Dummerweise hat der Sänger seine lebenswichtigen Tabletten im Flieger vergessen, was Pein, Entzugserscheinungen und Suche nach Ersatz (Alkohol, Rauchwaren, Drogen) zur Folge hat und viel Raum einnimmt. Dinah zeigt Bucky ihre Stadt. Sie verbringen viel Zeit an diesem Wochenende miteinander. Bucky ist geblendet von der großen Popularität, die er offensichtlich in England genießt. Doch die glücklichen Momente lassen auch schmerzliche, hochemotionale Erinnerungen wieder an die Oberfläche dringen.
Stilistisch wechseln sich die beiden Zeitebenen ab, was die Spannung auf der gegenwärtigen Handlungsebene etwas in die Länge zieht. Weitere sympathische Charaktere tauchen auf, mit deren Hilfe die Protagonisten Klarheit über ihre eigenen Wünsche und Möglichkeiten bekommen. Insgesamt werden große Gefühle in diesem Roman bedient. Die erlittenen Verletzungen der beiden Gestrandeten, insbesondere die Buckys, werden sehr berührend geschildert, so dass eine latente Melancholie mitschwingt, ohne in Hoffnungslosigkeit abzudriften, denn zu selbstironisch und humorvoll gehen die Hauptfiguren miteinander um. Ihre lebhaften Dialoge mindern die Schwere, das Schlechte scheint vergangen, die Zukunft steht im Zeichen des Neuanfangs.
Es dürfte das Verdienst des Autors sein, dass man zwar von Beginn an ahnt, wie die Geschichte ausgeht, aber trotzdem nie das Interesse an ihr verliert. Auch mancher bedeutungsschwere Satz findet sich: Alle hier trugen ihre unausgesprochenen Traumata wie kleine Rücksäcke voller Steine auf dem Rücken. (S. 17) Das (Hotel) Majestic war fraglos von einer morbiden, tief im Gemäuer sitzenden Endzeitstimmung durchdrungen, verfolgt von den eigenen Geistern des Untergangs. (S. 66) Die Musik füllte die Leerstelle, die das Leben hinterließ. (S. 270)
Ich bin sicher, dass Strandgut viele begeisterte Leser finden wird. Es ist ein gut geschriebener Unterhaltungsroman nach beliebt-bekanntem Schema. Ich persönlich empfand ihn in Teilen zu unrealistisch, wenig subtil und klischeeartig. Überraschungen halten sich in Grenzen, auch wenn die eingeflochtenen Erinnerungen sehr bewegen.
Definitiv kein schlechtes Buch, aber nicht das richtige für mich.