Fehlenden Arbeitseifer kann man Benjamin Myers nun wirklich nicht vorwerfen. 2020 erschien mit Offene See sein erster ins Deutsche übersetzte Roman bei Dumont, ein echter Publikumsliebling. Anschließend zwei weitere Romane und eine Kurzgeschichtensammlung. Und nun also Strandgut. Ein Buch, das schon aufgrund seiner Haptik und seines wunderschönen Covers ein Blickfang in jedem Regal ist. Der Titel? Hätte vielleicht besser übersetzt werden können. Aber dazu später mehr.
Bucky Bronco wohnt in Chicago, ist seit einem Jahr Witwer und erträgt die körperlichen und vielleicht auch seelischen Schmerzen nur durch in den Staaten leicht erhältliche Opioide. Plötzlich erhält er eine Einladung zu einem Musikfestival in Scarborough. Nicht als einfacher Gast, sondern als Star denn Bucky hat in seinen späten Teenager-Jahren zwei Soul-Songs aufgenommen, die auch fünf Jahrzehnte später noch eine Fangemeinde haben. Von der er selbst aber nie etwas wusste. Also macht sich Bucky auf den Weg in den Nordosten Englands.
Strandgut ist mehr als eine einzelne Geschichte. Es ist die von zwei nicht mehr ganz jungen Menschen, die einen Neuanfang jagen. Es ist die, einer alten, grauen, salzwasserhaltigen Stadt. Und vor allem eine über die Kraft der Musik. Und alle drei Geschichten sind auf ihre Weise schön, manchmal etwas dick aufgetragen, aber durchaus liebens- und lesenswert.
Die Ungläubigkeit Buckys, dass sich noch jemand an seine alten Songs erinnert, ja, dass sich sogar junge Leute dafür begeistern, ist entzückend. Und auch die Gründe für seinen Abschied von der Musik sind durchaus glaubwürdig beschrieben. Dass er mit seinem Vertrag abgezockt wurde, nie auch nur einen Dollar Tantiemen gesehen hat, am Ende aber doch ein üppiges Salär auf ihn warten könnte da kennen sich Anwälte vermutlich besser aus.
Wie Dinah hadert, sich von der Liebe zu ihrem Sohn loszusagen bei ihrem Mann ist das weniger ein Problem. Aber zu erkennen, dass man sich auch von Kindern (oder natürlich, in anderen Fällen, auch Eltern) lossagen kann, ist kein einfacher, aber dringend notwendiger Schritt. Warum das erst an diesem Wochenende passiert? Seis drum, hauptsache es geschieht.
Und wie Ben Myers dem alten Hotel The Majestic ein ganz eigenes Leben einhaut, zwischen veraltetem Interieur, kaputten Aufzügen und dort nistenden Möwen, die Strandgut immer wieder einen Hauch von Schauerroman verleihen. Ein Hotel, dass es wirklich gibt, wenn auch unter dem Namen Grand Hotel Scarborough, mit mäßigen Bewertungen und dem ein oder anderen gesundheitlich bedenklichem Zwischenfall in den letzten Jahren. Aber mit seinen Zahlen den vier Türmen, 12 Etagen, 52 Schornsteinen und einst 365 Zimmern. Fast so etwas wie eine eigene Nebenfigur des Romans.
Zwei Punkte geben leichte Abzüge in der B-Note. Der Roman ist schon etwas zu konstruiert nichts überrascht wirklich, es hat trotz der rauen Umgebung, menschlich wie geografisch, fast kitschige Wolldeckenroman-Züge, auf eine raue und kratzige Weise. Aber das ist ja auch mal in Ordnung, es muss nicht immer hochdramatisch in die Tiefe gehen.
Der zweite Punkt betrifft den Titel. Strandgut soll sich auf die beiden Protagonist:innen beziehen, im Leben gestrandete Personen. Aber sind sie das wirklich? Im Original heißt Myers Roman Rare Singles, seltene Singles also, bezogen auf die wenigen Aufnahmen Buckys. Und natürlich auch auf die menschlichen Singles wider Willen, der Witwer Bucky, die entfremdete Ehefrau Dinah, sicher auch die alleinerziehende Hotelangestellte Shabana eine wundervolle Nebenfigur übrigens. Vielleicht wäre der Titel schöner, passender gewesen.
Myers neuer Roman ist trotz kleiner Kritikpunkte und schöner Roman für Fans von Musik, von England und von der Hoffnung, dass es im Leben immer wieder eine überraschende Wendung geben kann. Ein rauer, kratziger Wolldeckenroman eben. Und das ist ja gar nicht so verkehrt für eine kühle, nasse Sommerwoche oder den nahenden Herbst.