
Ein packender Roman über den Zufall der Herkunft und die Enge nationaler Grenzen
Anfang des 20. Jahrhunderts kreuzt der bretonische Fischer Olier mit seiner Flotte vor Islands Küste. Sein Leben verändert sich, als er in einem Krankenhaus in den Ostfjorden der jungen Sólrun begegnet. Genau dort erforscht die deutsche Genetikerin Maris über 100 Jahre später eine Schaf-Chimäre und kommt zu überraschenden Ergebnissen - auch für sich selbst. Faszinierend verwebt »Unter weitem Himmel« Zeitebenen der isländischen Geschichte. Mit ihrem atmosphärischen Roman spürt Berit Glanz der Frage nach, wie kultureller Austausch Identität formt und welche Rolle dabei die Liebe spielt.
Besprechung vom 16.11.2025
Schmelzwasser in der Dämmerung
Der neue Roman von Berit Glanz ist eine Hommage an Island und ein abenteuerliches Spiel mit Zeitebenen und Perspektiven
Exakt 118 Jahre trennen die beiden Handlungsstränge dieses Romans. Auf der einen Seite Olier, ein bretonischer Fischer, der 1906 in Dünkirchen auf der "Étoile du Marin" anheuert und Richtung Island aufbricht, der wilde Nordatlantik mit seinen Kabeljaubeständen und Sólrún, eine junge Krankenschwester in den Ostfjorden. Auf der anderen Seite Maris, eine deutsche Biologin, die auf Island arbeitet und nach dem frühen Tod ihrer Mutter nach ihrem ihr unbekannten Vater sucht. Dabei verschlägt es sie auf einen Schafsbauernhof in den Ostfjorden, wo sie Siggi und seinen polnischen Gehilfen Adam kennenlernt. Während man durch die Kapitel des Romans rauscht, von 1906 nach 2024, von 2024 nach 1906, 118 Jahre vor, 118 Jahre zurück, ahnt man schon, dass dieser entlegene Bauernhof in Ostisland das Verbindungsglied zwischen den beiden Zeitebenen sein könnte.
Und schon ist man mittendrin im Sog dieses sowohl inhaltlich als auch stilistisch abenteuerlichen Romans. Es ist Berit Glanz' dritter; 2019 erschien ihr Debüt "Pixeltänzer", drei Jahre später "Automaton" und nun also "Unter weitem Himmel". Während in ihren ersten beiden Romanen das digitale Leben, Technologie und Start-ups sehr präsent waren, geht es nun ziemlich analog zu, natürlich auch, weil weite Teile des Buchs im frühen 20. Jahrhundert spielen. Aber auch in der Gegenwart verzichten ihre Protagonisten weitgehend auf digitale Hilfsmittel. Vermutlich liegt das an Island und seiner gewaltigen Natur, wo ein Handy dann doch nicht so wichtig ist wie eine gute Regenjacke.
Seit einigen Jahren lebt Berit Glanz in Reykjavík, und das merkt man auf jeder Seite. Es sind präzise Beobachtungen, die über Jahre hinweg entstanden und in dieses Buch geflossen sind, Naturbeschreibung des rau-kalten Nordens, die die Zeiten überbrücken: das unruhige Meer im Winter, der flirrende Schnee über den Bergen, die Schmelzwasserrinnsale in der Dämmerung, die Eisschollen im Abendlicht, der verwaschene Horizont - "Unter weitem Himmel" ist auch eine Hommage an Island. Glanz hat dafür lange recherchiert, hat isländische Zeitungen von 1906 an durchforstet, viele französische Magazine gelesen und Originalquellen studiert.
Genug Material, um im Roman noch eine dritte Ebene einzuziehen: das Tagebuch von Sólrún, jener jungen Isländerin, die sich in den Franzosen Olier verliebt und die, so zeigt sich, tatsächlich die Großmutter von Siggi, dem alten Schafbauern im Jahr 2024 ist. Sólrún hat also 1906 und 1907 Tagebuch geschrieben, im Roman mit serifenloser Schrift abgegrenzt von der Haupterzählung. Glanz spielt somit nicht nur mit den Zeitebenen, sondern auch mit den Perspektiven. Denn das Tagebuch treibt die Handlung voran, aber nicht im auktorialen Erzählstil, wie in den anderen Kapiteln, sondern aus der personalen Perspektive von Sólrún.
Als Leser nimmt man an einer abenteuerlichen Reise teil: Eben ist man noch mitten in der Dramatik eines Atlantiksturms, die Wellen rollen über das Schiff, der Rumpf bricht auseinander, die Fischer kämpfen ums Überleben, und man weiß nicht, wer ertrinkt und wer es ans rettende Ufer schafft. Und im nächsten Kapitel liest man in Sólrúns Tagebuch, wie sie vom Unglück hört, um die Fischer bangt und schließlich die einzigen beiden Überlebenden empfängt. Und man erfährt, wer sie sind.
Einer von ihnen hat die geschnitzte Holzfigur eines ertrunkenen Kameraden dabei, die wiederum die Zeit überdauert und im Jahr 2024 auftaucht; genauso wie das Tagebuch von Sólrún, das Maris und Adam im Bauernhof finden, lesen, die Geschehnisse rückblickend rekonstruieren. Und feststellen: Die Geschichte wiederholt sich. Auch sie verlieben sich und suchen in der Fremde nach ihrer Identität und Zukunft. Es ist schon erstaunlich, wie Glanz das macht, wie sie die Erzählung vorantreibt, nahtlos die Perspektive wechselt, zwischen den Zeiten springt und sich so alles höchst elegant zusammenfügt. Es ist ein schönes Beispiel dafür, dass Literatur in keiner Kategorie Grenzen gesetzt sind. "Als würde der Kreis sich schließen, Zeit ineinander fließen", heißt es am Ende des Romans.
Es erinnert alles ein wenig an den Film "In die Sonne schauen", im Grunde ja auch eine Bauernhof-Zeitsprung-Geschichte. Und ein bisschen an die Netflix-Serie "Bodies", in der nicht nur in zwei verschiedene Vergangenheiten, sondern auch in die Zukunft gesprungen wird. Das kann manchmal verwirrend sein, und leider lässt einen auch "Unter weitem Himmel" etwas ratlos zurück. Die Erwartungen, im letzten Kapitel in einer nochmals anderen Zeit die Antworten auf alle offenen Fragen zu bekommen, werden jedenfalls nicht erfüllt.
Vermutlich wüsste der Eishai Rat. Der Eishai ist eine letzte Verwebung zwischen den Erzählsträngen und im Werk von Berit Glanz kein unbekanntes Wesen. "Die Jahre vergehen in der Kälte des Nordatlantiks anders, Erinnerungen reichen nicht über die Jahrhunderte eines Eishailebens", schreibt sie. Der Eishai, dieser mysteriöse Fisch, kann nämlich bis zu 300 Jahre alt werden. Ein stiller Beobachter in den Tiefen des kalten Meeres, der sowohl das Jahr 1906 als auch das Jahr 2024 erlebt hat.
ANDREAS LESTI
Berit Glanz: "Unter weitem Himmel", Berlin Verlag, 256 Seiten
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