Eine baufällige Villa in Rom, eine rätselhafte Dottoressa, ein Mann auf der Couch erzählt um sein Leben: In ihrem neuen Roman »Goldstrand« fügt Katerina Poladjan Splitter des alten Europas zu einem heiter-melancholischen Bild der Gegenwart
An der bulgarischen Schwarzmeerküste entsteht in den 1950er Jahren ein Ferienort: Goldstrand, geplant als Platz an der Sonne für alle. Auf der Baustelle wird Eli gezeugt. Sechzig Jahre später hat er seine größten Erfolge als Filmregisseur längst gefeiert und liegt auf der Couch seiner Dottoressa in Rom. Er mutmaßt und fabuliert seine Familiengeschichte, die durch ein ganzes Jahrhundert und quer über den europäischen Kontinent führt, von Odessa über Konstantinopel und Warna in Bulgarien bis nach Rom.
Besprechung vom 19.09.2025
Und das ist der ganze Film?
Verzweifelte Suche am Schwarzen Meer: Katerina Poladjans Roman "Goldstrand"
So leichthändig von existenzieller Verzweiflung zu erzählen, das muss man Katerina Poladjan erst einmal nachmachen. Sie schickt einen sechzigjährigen Filmregisseur in Rom auf die Couch von Dottoressa Malatesta und lässt ihn seinen letzten Film erzählen: Ein Vater geht 1922 mit Tochter und Sohn in Odessa an Bord eines Schiffes, um vor den Bolschewisten nach Konstantinopel zu fliehen. Nach der Hälfte der Überfahrt, auf der Höhe Bulgariens, steigt die Tochter über die Reling und springt ins Wasser. "Das ist der ganze Film?", fragt die Dottoressa ungläubig. Er habe Preise für ihn bekommen, verteidigt sich Eli Fontana, und die junge Frau sei seine Tante Vera väterlicherseits. Vor noch deutlicherer Kritik schützt ihn das nicht. Seine Tochter, die in Deutschland lebt und ebenfalls Vera heißt, sieht den Film bei einem ihrer seltenen Besuche in Rom und urteilt: "Ich weiß nicht, was das soll."
Eli Fontana ist ein Verlassener und Verzweifelter und war es immer. Um die Dottoressa fortan besser zu unterhalten, erzählt er von der verzweifelten Suche des Vaters nach der verlorenen Tochter am bulgarischen Schwarzmeerstrand - jenem Küstenabschnitt, den Felix, der Bruder von Vera, Jahrzehnte später als sozialistischer Architekt touristisch erschließen wird. Dieser bis heute als Goldstrand bekannten Destination verdankt Poladjans Roman, der auf die Longlist des Deutschen Buchpreis gewählt wurde, den Titel.
Anfang der Sechzigerjahre besucht die Römerin Francesca Bulgarien und zeugt an ebendiesem Strand mit dem Architekten Felix ihren Sohn Eli. Den One-Night-Stand will Francesca dennoch nicht wiedersehen, die Nacht mit dem kommunistischen Antichrist ist vor allem ein Protest gegen die Eltern. Die Mussolini-Verehrer verstoßen die Tochter und ziehen den "Bastard" lieblos in der großen Villa auf. Der einsame Eli erfindet wilde Träume, um die Großeltern für sich zu interessieren, und als er endlich einmal in der Woche seine Mutter wiedersehen darf, wirbt er auch um sie mit allerlei Ausgedachtem. In vielen kurzen und prägnanten Szenen blättert Poladjan ein Jahrhundert Familiengeschichte voller Verlassenheit und Leere auf. Ob er denn noch wisse, fragt die von der Geschichtenflut irritierte Dottoressa ihren Klienten, warum er zu ihr komme? Er habe kein klares Ziel. Doch, sagt Eli, er wollte geliebt werden.
Die hohe Kunst der Psychotherapie beherrscht Dottoressa Malatesta wohl nicht. Dass Eli seit Jahrzehnten allein in der großen römischen Villa seiner verstorbenen Großeltern wohnt, hat er ihr nicht verschwiegen, auch nicht, dass ihn seine große Liebe Jenny mit der gemeinsamen Tochter Vera nach dem Tod dieser Großeltern verlassen hat. Der Regisseur ist so einsam wie als Kind, und als die Sitzungen bei der Dottoressa enden, bevölkert sich der Roman endgültig mit Schatten, Gespenstern und Erinnerungen. Ein längst verstorbener Stummfilmstar ist schon zuvor aufgetaucht, ein fremder schöner Mann namens Paolo hat neben Eli auf der Couch Platz genommen. Die Dottoressa schenkt Likör an beide aus, steckt Eli ihre elektronische Zigarette zwischen die Lippen und findet sich eines Abends mit Paolo in Elis Villa ein, um den Champagner des toten Großvaters Omero zu loben. Auch Elis Tochter Vera taucht unerwartet aus Deutschland auf, wo sie Besucher durch das KZ Oranienburg führt, und der Vater müht sich, sie auf die bekannte Weise zu unterhalten. Als sie von Kindheitsängsten spricht, fragt er nicht nach, sondern lobt, wie "echt" und "leuchtend" sie damals ohne Anlass vor dem Spiegel weinen konnte.
Katerina Poladjan, Jahrgang 1971, ist in Moskau aufgewachsen und reiste mit ihren Eltern Ende der Siebzigerjahre in die BRD aus. Ihre Romane erzählen von Gewalterfahrungen im 20. Jahrhundert und verbinden meist Ost und West. Dass Poladjan zunächst auch Schauspielerin am Schauspielhaus Hamburg und an der Berliner Schaubühne war, könnte die starke Bildlichkeit, den filmischen Ton ihrer Prosa erklären. Auch die Leichtigkeit, bisweilen gar Heiterkeit, mit der sie schmerzhafte Erfahrungen zu schildern vermag.
Am Schluss dieses vernichtenden Künstlerporträts kommt es allerdings dicke: Eli erträumt sich ein Happy End. Er setzt mit dem verrotteten Boot des Großvaters Omero, der Argonetta, über zum Goldstrand und begegnet dort zwar nicht Kirke, wohl aber einem Kirk, der in seinem Hotel Nirvana die Gäste allabendlich in Schweine verwandelt. Auch einen Stier gibt es und eine ihm zärtlich zugetane Nymphe, die nicht Europa, sondern Vera heißt. Sie habe sich 1922 nicht in das Schwarze Meer geworfen, erzählt sie, sondern in ein Rettungsboot gelegt. An nächsten Tag fand sie Vater und Bruder nicht wieder, überlebte in Konstantinopel als Prostituierte und Heilige bei Cholerakranken, lernte den Stier kennen und fand mit ihm den Weg auf die Jahrmärkte Anatoliens, dann in die Pariser Folies Bergère . . . Wie Katerina Poladjan aus diesem sicher passend infantilen Wirbelsturmschmu der Referenzen herausfindet, ist dann wieder lesenswert. JÖRG PLATH
Katerina Poladjan:
"Goldstrand". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2025. 160 S., geb.
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